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Friedemann Spicker zu:
Franz Kafka: „Du bist die Aufgabe.“ Aphorismen. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Reiner Stach. Göttingen: Wallstein 2019.

Kafkas Aphorismen haben wie sein gesamtes Werk vielfältigstes Interesse gefunden. Reiner Stach, durch seine dreibändige Kafka-Biographie auf das Beste ausgewiesen, legt jetzt „die erste kommentierte Ausgabe“ dazu vor, wie es zurückhaltend auf dem Rückumschlag heißt. (Trotzdem steht er auch auf den Schultern früherer Interpreten von Felix Weltsch 1954 bis zu Gray, Robertson, Dietzfelbinger, Hoffmann, Binder und anderen.)

In seinem Nachwort geht der Autor nach einem Seitenblick zur „Sonderstellung“ dieser „Aphorismen“, einer „definitorischen Verlegenheit“, auf Kafkas „Doppel- und Dreifachleben“ im Jahre 1917 in Zürau nach dem Ausbruch der Tuberkulose sowie auf ihre Entstehungsgeschichte ein: die beiden dort entstandenen Oktavhefte und die daraus exzerpierten 105 nummerierten Zettel. Er erläutert deren Rezeption seit 1931 durch Brod und die Nachfolgenden, als die Texte zu „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“ werden.

Stach befreit die Texte mit ihren unscharfen Begriffen wie „das Gute“ oder „die Wahrheit“ von jedem Bezug zu überlieferten Religionskonzepten; stattdessen gehe es um ein „ehrfurchtsfreies Hantieren mit mythischen Bausteinen“ (248). Seine Interpretation entwickelt von zwei Kernfragen her ihr Konzept: „Lässt sich hier so etwas wie ein Kern herausschälen? Ein systematischer Gedanke?“ (248) Es gebe keine konsistente Theorie, die Bilder seien seine Argumente. „Diese Fallhöhe zwischen extremer Abstraktion und fortwährend bezwingender Bildhaftigkeit zählt zu den wesentlichen intellektuellen Reizen der Aphorismen.“ (250)

Am Schluss arbeitet er den Zusammenhang der Aphorismen mit dem Spätwerk, besonders dem „Schloss“, heraus: „Am Ende also versucht Kafka die beiden losen Enden wieder miteinander zu verknüpfen, begriffliches und bildliches Denken mit literarischen Mitteln und in eindringlichen Denkbildern zu synthetisieren.“ (251)

Stachs Kommenter ist so angelegt, dass sich links die Nummern 1-109 des Textes finden (es gibt Unregelmäßigkeiten in Kafkas Zählung) und jeweils rechts Kommentar und Materialien: Datierung, Querverbindungen untereinander sowie zum übrigen Werk und den Briefen. (Die – vielfach spekulative – Sekundärliteratur arbeitet er zu Recht nicht explizit ein.) So zieht er zum Beispiel zu dem bekannten Aphorismus Nr. 22 „Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit.“ nach einer Reflexion über „Du bist“ statt „Du hast“ einen Brief an Max Brod aus dem gleichen Zeitraum, die Briefe an Felice, eine weitere Notiz in dem Oktavheft und einen Tagebucheintrag von 1922 heran und verweist auf Beziehungen zu Aphorismus Nr. 94. Das ist wohltuend knapp, aber so faktengesättigt wie kernfragengeleitet.

Damit ist dieser Kommentar in jedem Fall die Grundlage für jede neuerliche Beschäftigung mit Kafkas Aphoristik.

 

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