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Friedemann Spicker über:
Marcus Steinweg: Metaphysik der Leere. Berlin: Matthes und Seitz 2020.

Marcus Steinweg, Professor für Kunst und Theorie an der Kunstakademie Karlsruhe, gehört neben Martin Seel, Jürgen Große, Johann Hofbauer, Malte Oppermann und Rolf Friedrich Schütt zu den Autoren, die man gegenwärtig für den philosophischen Aphorismus in Anspruch nehmen kann. Nach „Inkonsistenzen“ und „Evidenzterror“ (beide 2015) legt er jetzt einen gleichartigen Band mit dem Titel „Metaphysik der Leere“ vor, 194 Stücke, die wiederum von einem Satz bis zum Kurzessay reichen und damit formal an Benjamin und Adorno erinnern. Ich habe dem früheren Band im Lichtenberg-Jahrbuch 2015 (S. 263-265) eine Rezension gewidmet, die auch auf grundsätzliche Fragen dieses Untergenres eingeht, und kann mich in Teilen nur wiederholen. Gerade hier kann und soll Steinwegs philosophischer Standort nicht erörtert werden, dazu nur ein Zitat aus dem Klappentext, aus dem für uns die „bestechenden Aphorismen“ herausstechen: „Marcus Steinweg umzirkelt in bestechenden Aphorismen das Phänomen oder Nicht-Phänomen der Leere. […] Die Leere erweist sich als konstanter, wenn auch unbezüglicher Bezugspunkt allen Denkens, das sich die Frage nach der ontologischen Konsistenz seiner Realitäten stellt.“ Leitthesen sind etwa Sätze wie „Der Zielpunkt des Schreibens ist die Leere, das Chaos, das Nichts. […]“ (29) oder „[…] Nichts legitimiert das Schreiben als das Schreiben selbst. […]“ (38). Voran stellt er sieben Aspekte der Leere, es folgen der „1. Teil Beckett“ (S. 15-63) und der „2. Teil Von Nichts zu Nichts“ (S. 65-222) nebst den zahlreichen Anmerkungen. Sätze wie „Die Null existiert als Index der Inexistenz“ oder „Ihre Präsenz ist nicht von der Ordnung des Präsentischen“ (S. 17) im ersten Stück „Null“ werden nicht für jeden Leser einladend wirken. Neben seinen theoretischen Referenzautoren von Nietzsche und Heidegger bis Badiou, Foucault, Lacan, Derrida, Barthes und Deleuze bezieht sich der Steinweg regelmäßig auf Autoren wie Kafka, Heiner Müller, Pessoa, Valéry, Robert Walser, Canetti und Handke.
Um den aphoristischen Aspekt herauszustellen, bietet es sich an, mit ihm bei Martin Seel anzuknüpfen, dem er in der Grundeinsicht zustimmt, dass man das vagabundierende und das systematische Denken nicht gegeneinander ausspielen könne (S. 81; Martin Seel: Nichtrechthaben wollen. Gedankenspiele. 2018, S. 13). Dementsprechend „vagabundiert“ er in erster Linie als kommentierender Leser, aber auf der Linie seiner Grundthese; Intertextualität ist Trumph: Steinweg über Canetti über Kafka, Steinweg über Barthes über Flaubert. Der vom Aphorismus herkommende und auf diese Weise geübte Leser wird sich mit Zustimmung und Kritik eher bei Steinwegs Einsatzkürze wiederfinden. Ich stelle in dieser kurzen Anzeige nur einige dieser Sätze an den Schluss. Inhaltlich sind Leserin oder Leser etwa bei Sprache und Denken, Wissen oder Wahrheit und Lüge auf vertrautem Gebiet:

„Sprache. Verheerender als ihr Verlust ist ihr Gebrauch.“ (S. 84)
„Tricky. Denken ist der zum Scheitern verurteilte Versuch, mit dem Denken aufzuhören.“ 97
„Wissen ist nicht alles, aber ohne Wissen alles nichts.“ (S. 177)
„Wahrheit. Der Abgrund, der dich von der Wahrheit trennt, ist sie selbst.“ (S. 94)
„Opfer. Du verlierst die Wahrheit nicht an die Lüge, du opferst sie dem Glück.“ (S. 190),

formal knüpfen sie zum Beispiel bei Wortspiel, Definition, Paradoxon, Chiasmus und, ausnahmsweise, auch dem Bild an, das nach Aufschluss und also energisch nach Mitarbeit verlangt:

„Denken. Wenn der Sinn dir ans Fell trommelt, bis es zu zerreißen droht.“ (S. 161)
„Narzissmus. Die in sich gekallte Leere, die die Psychoanalyse hoffnungslos nennt.“ (S. 134)
„Kein Widerspruch. Erotik der Schwäche: Sie greift nur als Kraft.“ (S. 146)
„Nichtpolitische Korrektur. Nicht die Wirklichkeit setzt den Träumen zu. Es sind die Träume, die die Wirklichkeit korrigieren.“ (S. 158)
„Einfache Wahrheit. Kein Kind ohne Gräten.“ (S. 167)

 


Alexander Eilers zu:
Friedemann Spicker über: Marcus Steinweg

Was gibt es über Steinwegs Publikation zu sagen?  Die milde Kritik Spickers deutet es im Grunde schon an: nichts. Das Buch ist sein Gegenstand. Insofern hat die Ontologie doch noch eine Chance! Aber Scherz beiseite: Obwohl sich in dem Notizenband etliche Bezüge zu Goethe, Valéry, Kafka, Wittgenstein, Benjamin, Adorno, Canetti und Pavese finden, hat er bestenfalls eine Fußnote im Kapitel ‚Der philosophische Aphorismus‘ verdient. Sprüche wie „Sprache / Verheerender als ihr Verlust ist ihr Gebrauch“, „Wahrheit / Der Abgrund, der dich von der Wahrheit trennt, ist sie selbst“ oder „Illusion / Erfolgreichste aller Illusionen: dass Illusionen illusorisch seien“ sind zugegebenermaßen recht pfiffig. Dennoch hat man den Eindruck, dass sie eher ‚Glossen zu inbegriffenen Texten‘ als eigenständige ‚Sprengsätze‘ sind. Die weniger gelungenen Beiträge klingen denn auch allzu deutlich nach den stilistischen Vorbildern – vor allem nach Beckett: „Pas maintenant / Du musst alles aufs Neue lernen. Aber nicht jetzt“, „Tricky / Denken ist der zum Scheitern verurteilte Versuch, mit dem Denken aufzuhören“ sowie „Punkt / Du darfst nur bis zu einem gewissen Punkt verzweifeln. Danach nicht mehr. Dieser Punkt ist mit der Geburt erreicht“. Der Rest der enthaltenen Aphorismen ist schlichtweg banal – „Nicht die Wirklichkeit setzt den Träumen zu. Es sind die Träume, die die Wirklichkeit korrigieren“ -, ergeht sich in Albernheiten – „Kein Kind ohne Gräten“ – oder bleibt weißes Rauschen: „Das Denken entzerren: ihm Spielraum dort einzuräumen, wo es nichts zu suchen hat.“ Letzteres könnte man den ‚Jargon der Nichtigkeit‘ nennen. Steinweg ist nicht der einzige Gegenwartsphilosoph, der diese Sprache spricht.

 

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