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Friedemann Spicker über:
Christoph Möllers: Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik. Berlin: Suhrkamp 2020 (edition suhrkamp 2755)

 

Nein, es ist kein Versehen, dass ein solcher Titel in unserer Rubrik erscheint, und ich bin weit entfernt davon, diese kurze Anzeige eine Rezension zu nennen. Aber dass die „Elemente einer liberalen politischen Mechanik“ von Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität Berlin, in einem bestimmten Sinne hierher gehören, ist leicht zu begründen. Und das nicht nur, weil sie als „eine aphoristische Verteidigung der Demokratie“ (Jens Hacke: Rez. Möllers, in: „Die Zeit“ Nr. 47 v. 12. 11. 2020, S. 55) angekündigt werden und der Autor selbst die Form seiner Abhandlung reflektiert. (Auch andere Rezensenten versäumen es nicht, auf die aphoristische Form einzugehen.) Sie ist in nummerierte Abschnitte, oft in Frageform, gefasst (über die freilich eine ‚ordentliche‘ Gliederung in vier Großkapiteln gezogen ist). Im Kapitel „Zu Konzeption und Lektüre“ fragt der Autor: „Warum aber seine mosaikhafte Form?“ (S. 13) Sein Rezensent Hacke hebt mit ihm mehrfach explizit oder implizit auf diese Form ab: „Das Aphoristische bietet für den vorgebildeten Leser durchaus Inspiration.“ „In 349 Kurzkapiteln traktiert er tausenderlei Themen.“ Er kann sich aber letztlich nicht damit anfreunden: „Aber die flinken Wechsel bewirken bald eine gewisse Erschöpfung beim Leser.“ „Am Ende fühlt sich der Leser überwältigt von Virtuosität und Einfallsreichtum, ist aber auch etwas enttäuscht von einer gewissen Ziellosigkeit.“ Statt der „funkelnden, bisweilen jedoch schnell verglühenden Kabinettstückchen“ wünscht er sich dann doch „eine Rückkehr zum systematischen Entwurf.“
Diese diversen Hinweise auf den „Aphorismus“, das „Mosaik“ und das Antisystematische sind es aber nicht, die zur Begründung dafür ausreichen, dass wir hier ein juristisches Fachbuch einschmuggeln. Meine Entscheidung ist vielmehr begriffsgeschichtlich begründet und greift auf eine Tradition des 18. Jahrhunderts zurück, als aus einer antisystematisch gedachten Wissenschaft der deutschsprachige Aphorismus-Begriff im wissenschaftlichen medizinisch-philosophisch-anthropologischen Lehrbuch erwuchs (z. B. mit den „Philosophischen Aphorismen“ Ernst Platners 1776), von wo aus er auf andere Disziplinen von der Theologie bis zur Jurisprudenz erweitert wurde. Das Nachleben dieses (populär-)wissenschaftlichen Aphorismus-Begriffes kann man mit Autoren wie Moritz Heimann oder Walter Ehrlich bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgen. Auch die Verbindung von Recht und Aphorismus ist (bei aller Vorsicht) vielfach nachzuvollziehen, etwa bei Gustav Radbruch und Carl August Emge. Aus dieser Tradition heraus wird diese Form hier beibehalten, der Begriff, als Titel etwa, ist natürlich längst in die Literatur übergegangen. Da ist es kein Zufall, dass Möllers in einem Interview in „Die Zeit“ vom 3. 12. 2020, gebeten, „ein politisches Buch [zu nennen], das man gelesen haben muss“, auf Graciáns „Handorakel“ verweist (das, nebenbei, gerade in einer vielgepriesenen Neuübersetzung von Ulrich Gumbrecht erschienen ist).
Möllers behandelt von einer explizit erläuterten sozialliberalen Position aus die Frage: „Wie begegnet man der Erosion liberalen Denkens?“ (Hacke) Er entwickelt dazu ein Konzept von „Freiheitsgraden“, in drei Dimensionen der Freiheitswahrnehmung, und beleuchtet von daher das Verhältnis von Politik und Freiheit. Der Liberalismus solle sich auf linke und rechte Positionen verteilen.
Ich habe von der Möglichkeit reichlichen Gebrauch gemacht, „an verschiedensten Stellen die Lektüre zu beginnen und fortzusetzen“, die der Autor im Zusammenhang mit der „mosaikhaften Form“ einräumt, und habe dabei vornehmlich auf die „Gegenwärtigen Fragen“ (S. 39ff.) wie „Nr. 6 Nachbar oder Staat: Vor wem sollte sich der Liberalismus fürchten?“ (S. 27) oder „Nr. 20 Erfüllt Ungleichheit eine legitime soziale Funktion?“ und die „Praktischen Ausblicke“ (S. 247ff.) gesehen. Exemplarisch will ich hier nur Nr. 310 „Der Ort des Liberalismus in der Parteienlandschaft“ oder Nr. 312 „Über grüne Parteien als Erbinnen des Liberalismus“ nennen. Was ein Fachmann wie Hacke als „funkelnd“ und virtuos, zu unsystematisch und etwas ziellos bemängelt (damit ist er nicht repräsentativ; s. Jens Bisky, „Süddeutsche Zeitung“, 19. 11. 2020, Herfried Münkler, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 2. 10. 2020), das erfreut den Nicht-Fachmann – neben dem „Mosaik“-Charakter, der das flanierende Lesen erlaubt – als aphoristischer Stil, der hohe Abstraktion immer konkret vermittelt, von Brexit, Pandemie und Ökologie bis zu dem politischen System Singapurs, und zugespitzt und damit auch provokativ formuliert:

„Repräsentation vermittelt das Soziale in die Politik und die Politik in das Soziale.“ (S. 75)
„Eine Politik der Freiheitsgrade muss auch Freiheit von der Politik als Wahrheit anerkennen.“ (S. 80)
„Ohne Mitläufer gibt es keine Politik.“ (S. 173)
„Dass Mehrheiten Fehler machen können, spricht so wenig gegen die Demokratie, wie Fehler eines Einzelnen gegen dessen Freiheit sprechen könnten.“ (S. 223)
„Eine unpolitische Partei kann politisch sehr erfolgreich sein, wenn sie programmatisch und personal gefestigt ist.“ (S. 262)

Gelobt sei die Gattung, von der man in solche Randgebiete geführt wird!

 

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