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Friedemann Spicker über:
Elazar Benyoëtz: Die Zukunft sitzt uns im Nacken. Veränderte und erweiterte Ausgabe. Würzburg: Königshausen und Neumann 2020.
– Finden macht das Suchen leichter. Veränderte und erweiterte Ausgabe. Würzburg: Königshausen und Neumann 2020.

 

Der treue ältere Benyoëtz-Leser wird sich sagen: Die Bände kenne ich doch schon aus den Jahren 2000 und 2004. Und er hat ein Recht zu erfahren, was es hier Neues gibt. Was genau bedeutet „verändert und erweitert“? Zunächst aber: Das Wesentliche ist geblieben, das ist nicht verwunderlich. Mit dem Band „Die Zukunft sitzt uns im Nacken“ hatte sich Benyoëtz endgültig zu einer neuen Mischform bekannt, die einen Grenzbereich zwischen Aphorismus und Lyrik besetzte und zwischen kotextueller Isolation und größerem Zusammenhang changierte. Mit diesen beiden Bänden nun setzt er die Reihe seiner Neubearbeitungen fort (vgl. Lichtenberg-Jahrbuch 2020, S. 266f.): formal – da kann ich mich nur wiederholen – in einer Mischung aus Lyrik, Aphorismus, Zitat, zusammen mit der Variation älterer Texte um die Mittelachse angeordnet, thematisch vertraut um Biblisch-Jüdisches, um Glaube und Zweifel, um Erinnerung, Wort und Sprache kreisend und immer wieder auch den Aphorismus selbstreferenziell bedenkend und auf den Weg des eigenen Werkes zurückblickend. Großartige aphoristische Einsichten stehen neben bemerkenswerten Selbstaussagen, bedingungsloses Wortspiel neben Lyrisch-Verrätseltem.

Um auf einige Tendenzen der Neubearbeitung einzugehen und das Verhältnis von 276 zu 391 Seiten („Zukunft“ 2000/2020) und 255 zu 497 Seiten („Finden“ 2004/2020) zu erklären: Die Einteilung in Kapitel ist feiner geworden, oft werden dazu ältere Einzeltitel herausgehoben (so in „Finden“ „Ideall“ (alt S. 9, neu S. 15), „Vollstellbar“ (alt S. 15 , neu S. 31). Das wohlkalkulierte Wortspiel findet dabei vor allem in „Finden“ sein „Spiel“feld: von „Trachtgut“ (neu S. 53, alt S. 27) über „Dortmals“ (neu S. 95, alt S. 49) bis zu „Varijahre“ (neu S. 125). Die Anreicherung durch Zitate ist vermehrt, so z. B. in „Finden“ die Seiten 126 und 223, die zwischen die „alten“ Seiten 62/63 bzw. 122/123 wie eingeschoben wirken, ohne dass die Homogenität des Ganzen gestört wäre. Die Mittelachse ist noch konsequenter durchgeführt. Das gilt insbesondere für „Die Zukunft sitzt uns im Nacken“. Man vergleiche das Kapitel „Im Aphorismus gewinnt das Unhaltbare sein Gleichgewicht“ (alt S. 105ff., neu S. 145ff.): Wo dort etwa auf den Seiten 108 bis 145 noch Prosa-Passagen auftauchen, sind auch sie jetzt rhythmisiert um die Mittelachse angeordnet. Zur Illustration nur ein Beispiel (alt S. 134, neu S. 188):

Die Dissonanz gehört zu einer frohen Botschaft mehr als zum guten Ton; eine frohe Botschaft hält Wort, verträgt aber Stilbrüche. Könnte man zum Beispiel mit sich selbst durch dick und dünn, es wäre die vollendete Diät

Die Dissonanz gehört
zu einer frohen Botschaft
mehr als zum guten Ton;
eine frohe Botschaft hält Wort,
verträgt aber Stilbrüche.
Könnte man zum Beispiel
mit sich selbst
durch dick und dünn,
es wäre die vollendete Diät

Eine andere Tendenz, die wesentlich zu dem erweiterten Umfang beiträgt, lässt sich hier gleich anschließen: Was damals auf der Seite 134 im Wechsel von Prosa und Mittelachse erschien, steht jetzt auf den Seiten 188/189 formal gleichartig und mit entsprechend mehr Raum um sich (so auch 259 alt gegen 350/352 neu u. a.). In „Finden macht das Suchen leichter“ geht der Autor über viele Seiten hinweg so vor. Nicht selten sind aber auch die einzelnen Aphorismen oder „Strophen“ in eine neue Nachbarschaft gerückt, die neue Assoziationsräume öffnet. Wo in „Zukunft“ vier thematisch zusammengehörige Prosatexte auf einer Seite stehen (S. 96 alt), da sind sie 2020 auf zwei Seiten verteilt, in Mittelachse angeordnet und – nicht zuletzt – durch ein Lichtenberg-Zitat gestützt (S. 134 neu). Auch die Seiten 12 (alt) und 22/23 (neu) in dem Band „Zukunft“ können das Zusammenspiel von Umstellung, Aufspaltung und Neukommentierung dokumentieren. Nur zwei konkrete Beispiele aus „Finden macht das Suchen leichter“, einmal für die Umstellung, einmal für die Kommentierung: „Merkwürde“, die in Kapitälchen gesetzte Überschrift (55 alt), bildet in der neuen Ausgabe den Titel des Kapitels (107ff. neu), die beiden nächsten „Strophen“ bilden (in umgekehrter Reihenfolge) „Überschrift“ („Erinnerung – das längste Zuhause“) und „erste Strophe“ (110 neu), die Texte 3 und 4 finden sich in einer neuen Einheit auf Seite 112 (neu). „Hast du die Macht / über dich, / hat Gott die Allmacht“ und „Lass dich von Gott / nicht überzeugen, / wenn du ihn lieben kannst“ ( 195 alt) wird entschieden neu aspektuiert durch die fett-kursive, wortverspielte „Überschrift“ „Sei logisch, Theo“ (347 neu). (Im Detail ist die philologische Kleinarbeit den Späteren vorbehalten.)
Viel fast schon klassisch gewordenes Selbstreferenzielles findet der Leser wieder, in „Finden“ etwa „Ein verfolgter / Gedanke / wird nie ein Aphorismus” (142 neu, 73 alt) oder „Auch Kürze / hat ihre / Maßlosigkeit” (172 neu, 90 alt), er wird aber auch mit Neuem belohnt: „Das Urheberrecht ist beim Autor, / Herr des Geschriebenen ist der Leser“ (Zukunft“, neu 10).

Die Kommentierung ist in „Zukunft“ wesentlich erweitert, in „Finden“ ist sie ganz neu (459-491).
Beide Bände haben jetzt – leider nicht ganz vollständige – Namenverzeichnisse. Von Lichtenberg etwa, der dort fehlt, findet man in „Zukunft“ (zum Teil als Teilzitat) B 95, A 93 , D 96, C 158 und H 59 zitiert.
Von den beiden Nachworten („Zukunft“, 373; „Finden“ (457f.) ist zumal das von „Finden“, in dem der Autor selbst von „einer Ausgabe letzter Hand“ spricht, die genaueste Lektüre wert. Sein geheimer Wunsch war es wohl, in der Bearbeitung „eine Altersfrische zu erzeugen“; es sei „unter der Hand zu meinem ‚Buch der Bücher‘ geworden“, schreibt er. Als solches wird es für den jüngeren Leser – ungeachtet seiner Genese – wertvoll sein, der ältere wird dem vertrauten Ton begegnen, sich an dem großzügigen Druckbild erfreuen und auch manches Bekannte wie neu lesen.

 

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