zurück zur Übersicht der Rezensionen

 

Jürgen Wilbert über:
Elisabeth Turvold: Lichtbrecher – Reflexionen und Prismografien. Lauterbach: Mergrad 2022.

 

Elisabeth Turvold (geb. 1963 in Sarpsborg/Norwegen) legt hier ihren fünften Aphorismenband vor. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Gießen und lebt in Grünberg (Oberhessen). Mit vielen Aphorismen aus ihren ersten drei Publikationen ist sie in der 2015 im Brockmeyer Verlag (Bochum) erschienenen Anthologie „Der Geist ist nicht männlich – nur sein Artikel. Aphorismen von Frauen“, herausgegeben von Friedemann Spicker und Angelika Spicker-Wendt, vertreten. Dieses neue handliche Buch (im Taschenformat von 12 x 17 cm) ist laut Klappentext „angereichert mit Fotografien, die auf neue Weise mit dem Licht spielen: sogenannte Prismografien.“ Vor diesem Hintergrund ist auch der Titel zu verstehen. Ein leitmotivischer Aphorismus von ihr lautet: „Durch ein Prisma betrachtet, zerfällt die Welt in Wiederholungen.“ (S. 21 und auf dem Klappentext) Die Kurztexte sind in diese vier Kapitel unterteilt: Reflexionen I bis III und Lichtbrecher: Wörterbuch (als Fortsetzung des Wörterbuchs in ihren vorangegangenen Büchern aus den Jahren 2010, 2014 und 2021).

Die Autorin geht versiert mit den unterschiedlichen Stilformen des Aphorismus um; ob es sich um ausdrucksstarke Metaphern handelt: „Pazifismus im Krieg: Eierlauf zwischen Granaten.“ (15) / „Wenn ein Ohr schlecht hört, kommt es zu einem akustischen Schielen.“ (26) Oder ob es um die originelle Abwandlung von Redewendungen geht: „Es wäre ein Akt der Barmherzigkeit, das letzte Hemd mit Taschen zu versehen.“ (10) / „Die Waage streckt einem boshaft ihr Zünglein heraus.“ (39) Auch die Stilmittel des Antithetischen, ja Paradoxen versteht die Autorin wirkungsvoll einzusetzen: „Man muss den alten Leuten ein gutes Leben ermöglichen, damit die Jungen eine Perspektive haben.“ (37)

Im Abschnitt „Reflexionen II“ finden wir mitunter lyrisch geprägte Naturimpressionen: „Solange ihr die Pusteblumen nicht ausgehen, wird die Natur sich zu regenerieren wissen.“ (20) / „Vollmond hat ein offenes Gesicht. Man schaut es ohne Verlegenheit an.“ (20) / „Der Himmel ist so wolkenlos, dass er die Erde blendet.“ (27) Das positive Sinnbild wird an anderer Stelle kritisch gebrochen: „Die Muse sitzt auf ihrem Hochsitz, während die Rehe unter ihr weiden und die Landschaft verkitschen.“ (19) Bisweilen erinnern Turvolds bildhafte Kurztexte an die des spanisch-argentinischen Autors Ramón de la Serna, die sich zwischen wortwitziger Analogie und skurrilem Bonmot bewegen. (Vgl. „Aphorismen der Weltliteratur“, hrsg. von F. Spicker, Stuttgart: Reclam 2009, S. 270/271: „Taschenkalender verkleinern das Jahr.“) Man betrachte nur die folgenden Beispiele ihrer skurrilen Bildaphorismen: „Ein leichter Landregen kitzelt die dürren Gräser, die unmittelbar zu kichern beginnen.“ (35) / „Ein Arbeiterdenkmal aus gefrorenem Schweiß“ (37). Der letzte Text ruft beim Rezensenten den Aphorismus von Peter Hille in Erinnerung: „Der Schweiß ist die Träne der Arbeit.“

Die Autorin schafft es im kafkaesken Sprachbild, in wenigen prägnanten Worten eine schreckliche, existenziell-absurde Grenzsituation zu entfalten: „Erwachen eines Bauarbeiters. Von einem Bagger im Kopf aus dem Schlaf gerissen – nie hat er Bauarbeiter werden wollen -, lässt er den Bagger den Kopf abbaggern, windet sich, schraubt sich aus seinem Halsstummel heraus, haut Zement auf sich, setzt den Helm auf den Hals, und geht kopflos, gewohnt pünktlich, zur Baustelle.“ (36f.)

Das inhaltliche Spektrum umfasst auch gesellschaftskritische Notate zum Thema Klima und soziales Umfeld: „Hitzerekord: Der Sommer überholt sich selbst.“ (24) / „Beton brennt nicht, doch ist er Baumaterial für soziale Brennpunkte.“ (24) Im dritten Teil, den „Reflexionen III“, beschäftigt sich die Autorin auch mit dem Prozess des Schreibens und der Sprache: „Warmschreiben: den Stift auf dem Blatt spazieren führen.“ (33) / „Sprache beruht auf Konditionierung und dem Wunsch, sich verständlich zu machen. Verlässt sie dieses Feld, ist sie anfällig für Kunst“ (35)

In ihren Texten sind kaum triviale, allzu berechenbare Sätze oder rein wortwitzige Anspielungen zu finden; hier bestenfalls ein eher belangloses Beispiel: „Die Schönheit ist nicht plötzlich da. Sie ist die Entfaltung einer glücklichen Anlage.“ (38) Oder: „Man lasse sich doch nicht von der Sonne tyrannisieren! Nur weil sie scheint, muss man den Tag nicht im Freien verbringen.“ (26) Im knappen Kommentar zum Sport kommt m. E. ungeachtet der widersprüchlichen Anspielung auf den Magnetismus zu direkt die ablehnende Haltung der Autorin zum Ausdruck: „Sport zieht die Massen in abstoßender Weise an.“ (29)

Turvolds fantasievoller und denkanregender Sprachlust ist der letzte Teil des Büchleins vorbehalten: „Lichtbrecher: Wörterbuch“; darin knüpft sie an ihre originellen und wortwitzigen Definitionen in den vorangegangenen Publikationen an. Einige Beispiele mögen hier ihr kreatives Wortschöpfungspotential belegen: „Bril – le; Scharfmacher.“ (43) / „ Me – ta –pher; maßgeschneidertes Kleid für ein Wort.“ (45) / „Sitz – ecke; dialogisches Möbelprinzip.“ (47) / „Wol – ken; Tränensäcke am Himmel.“ (48) Hier scheint Ambrose Bierce mit seinem „Wörterbuch des Teufels“ Pate gestanden zu haben, d. h. zumindest anstoßend gewirkt zu haben.

Mit meinem abschließenden Fazit kann ich mich kurz fassen: Wer die Gattung der Aphoristik schätzt und dieses schmale, eher unauffällige Aphorismenbändchen (mit gerade mal 50 Seiten Umfang) nicht nur überfliegt, sondern mit Interesse liest, wird durch eine Fülle von ungewöhnlichen Sprachbildern und Denkanstößen reich belohnt.

 

zurück zur Übersicht der Rezensionen