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Jürgen Wilbert über:
Hiltrud Schinzel: Aphorismen – Aphrodismen. Norderstedt: BoD – Books on demand 2022.

 

Die promovierte Kunsthistorikerin und Restauratorin Hiltrud Schinzel (Jahrgang 1946) hat im Oktober 2022 ihr erstes Aphorismenbuch veröffentlicht. Das schmale Bändchen in reduzierter schwarz-weiß-Gestaltung des Covers (mit eigener Zeichnung) beinhaltet immerhin rund 500 Aphorismen, die die Autorin über viele Jahre gesammelt hat. Der Titel „Aphorismen – Aphrodismen“ spielt mit der assoziativen Nähe zum Begriff Aphrodisiaka. Im Klappentext auf der Rückseite heißt es erläuternd dazu: „Aphorismen sind Aphrodisiaka für den Verstand und das Gemüt.“ Werden hier möglicherweise nicht falsche Erwartungen beim Leser / bei der Leserin geweckt im Hinblick auf lustvoll erregende Kurztexte? Doch eine Durchsicht des Inhalts auf 50 Seiten zeigt eine alphabetische Gliederung der Themen, wobei das Stichwort Liebe nur fünf Mal vorkommt, Erotik, Lust und Sex kommen gar nicht vor. Ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt eindeutig bei der Kunst – über sechs Seiten, was natürlich auf den beruflichen Erfahrungsschatz der Autorin zurückzuführen ist.

Die Qualität der jeweiligen Aphorismen innerhalb der Themenfelder von A wie Abstraktion bis Z wie Zähne schwankt mitunter erheblich. Man stößt auf so großartige Aphorismen wie „Jeder Aggressor tarnt sich gern als Belagerter.“ (7) / Die Dummheit siegt immer, weil sie keine Zweifel kennt.“ (14) / „Erst wenn sie erfüllt sind, lernt man seine Wünsche kennen.“ (53). Im Gegenzug findet man aber auch solche eher banalen und zudem noch nach Wilhelm-Busch-Manier gereimten Texte: „Verantwortung am Horizont, schon ist der Mann davongeronnt“ (48) / „Hat man erst das Terrain sondiert, lebt es sich gleich gänzlich ungeniert“ (46)/ „Die Frau kann ihre Lippen boostern, ein Mann will sich meist anders plustern“ (18). Etwas altbacken hingegen ist diese Anmerkung: „Früher war die graue Hose die Privatuniform, jetzt ist es die Jeans.“ (23) /

Manche persönlichen Kommentare zu Zeitgeisterscheinungen kommen bisweilen etwas gelängt und aufgebläht daher. (Vgl. S. 30 über „Die Postmoderne…“. Dieser Text könnte eher Teil eines Essays sein.) Am besten gefallen mir die Aphorismen, die kurz und prägnant Sachverhalte „auf den Punkt bringen“, die die Autorin offensichtlich vor dem Hintergrund ihres Berufslebens zu beurteilen versteht: „Restauratoren sind die Verteidiger der verlorenen Kriege gegen die Zeit“ (30). Bewusst verzichtet Schinzel auf den Punkt am Ende eines Satzes, da sie den Gedankengang (auch für die Lesenden) offen halten möchte. Die rhetorischen Stilmittel des aphoristischen Schreibens werden häufig von ihr versiert eingesetzt, so u. a. das Paradoxe in Verbindung mit einer humorvollen Pointe: „Malewitsch: Wenn man etwas auf den Punkt bringt, bleibt auch nur ein Punkt übrig“ (30). Oder: „Männer, die nichts zu tun haben, glauben immer, ihre Frauen beschäftigen zu müssen (34). (Interessante Frage am Rande: Welches Männerbild kommt in Schinzels Aphorismen zum Ausdruck?)

Das Mittel der Überzeichnung, der Zuspitzung wird öfter verwendet, dadurch werden in besonderem Maße Denkanstöße erzeugt, wie hier: „Archive sind die Friedhöfe der Wissenschaft“ (10) / „Dokumentation: Nichts geht verloren – nur das Urteilsvermögen“ (14). Originelle Wortschöpfungen tauchen ebenfalls auf: „Beweisbarkeitseuphorie“ (37) / „Systematisierungswahn“ (40) / „Touristenmentalität“ (46), „Sehnsuchtsgier“ (51). Gelungen ist in diesem Zusammenhang auch dieses antithetische Textbeispiel: „Nur der Schwache braucht das Überlegenheitsspiel“ (42). Ihre Kritik entzündet sich häufiger an den Folgen der „Quatschgesellschaft“: „Es wird so viel Unsinn geschwätzt, dass die Wahrheit am Hörsturz gestorben ist“ (47).

An manchen Stellen konterkariert sie das aphoristische Gebot der Knappheit, indem sie unnötigerweise noch einen erläuternden Halbsatz (in der folgenden Klammer) anschließt, wie etwa hier: „Früher eroberte man Herzen, Länder, Kontinente, heute erobert man Märkte (ein diminuierender Rückschritt).“ (34) Nachweislich in der Aphoristik abgedroschen ist Schinzels Kritik am Sprichwort „Der Klügere gibt nach“: „Der Klügere, der nachgibt, ist nämlich immer der Dümmere, woraus hervorgeht, dass der Dümmere nachgibt und nicht der Klügere.“ (24) Man vergleiche nur Marie von Ebner-Eschenbachs nach wie unübertroffene Variante: „Der Gescheitere gibt nach! Ein unsterbliches Wort. Es begründete die Weltherrschaft der Dummheit.“

Alles in allem wird der/die dem Aphorismus zugeneigte Lesende in Schinzels Erstling genügend denkanregende und erhellende Kurztexte finden, die „durchaus tauglich für den täglichen Schlagabtausch mit Vernunft und Unvernunft“ (aus dem Klappentext) sein können. Meines Erachtens hätte es ihrer ersten aphoristischen Veröffentlichung gut getan, wenn noch einmal kritisch gegengelesen worden wäre. So hätte auf einige deutlich schwächere Texte verzichtet werden können, die jetzt leider den Gesamteindruck etwas trüben. Apropos: Wie hat die Autorin es selbst doch so witzig wie selbstkritisch formuliert: „Wenn man Sprüche klopft, muss man auch damit rechnen, dass sie einem in den Hals zurückgestopft werden“ (44).

JWD, 5.11.2022

 

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