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Friedemann Spicker über:
Jürg Amann: Nichtsangst. Fragmente auf Tod und Leben. Wien: Haymon 2008.

 

Der 1947 geborene Autor ist mit einem reichhaltigen, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1982 geehrten erzählerischen und dramatischen Werk bekannt geworden, aber nicht explizit als Aphoristiker hervorgetreten (weshalb er auch bisher unserer Aufmerksamkeit entgangen war).
Zugegeben: Seine vor mehr als zehn Jahren erschienenen „Fragmente“ empfehlen sich nicht ihrer Aktualität wegen für eine Rezension, aber unsere Rubrik nimmt gegenüber den Besprechungen in Zeitungen oder Zeitschriften ohnehin eine Sonderstellung ein. Es gibt zwei gute Gründe, Amanns „Fragmente“ jetzt hier vorzustellen, und beide sind mit Namen verbunden, die in der Gattung des Aphorismus einen guten Klang haben.

Felix Philipp Ingold hat ihm kürzlich eine hohe Empfehlung mitgegeben.i Die „aphoristischen Struktureffekte“ in dessen Werk sind schon 1990 analysiert worden; erst jüngst konnte man sich mit seiner These auseinandersetzen, der Aphorismus könnte „die optimale Lektüre für unsere Tage sein“, kürzlich haben wir hier zwei seiner Werke besprochen.ii Ingold stellt Amann als „ein Schwergewicht jüngerer deutscher Aphoristik“ (27) vor und bescheinigt ihm, „inhaltlich wie formal, Aphoristik auf höchstem Niveau.“ (28) Er greift dabei sogar zu einem besonderen Vergleich: „Im Unterschied, ja im Gegensatz zu Amann, der den Aphorismus fast durchwegs zur Behauptung tiefer, zumeist resignativer Einsichten einsetzt, trivialisiert Handke die aphoristische Rede, indem er sie als alltägliche Rede vorführt.“ (28) Allerdings passt diese Beurteilung nicht recht mit der anderen Bemerkung zusammen, Amann schwanke ständig „zwischen definitorischer Rede (Behauptung, Verallgemeinerung, Forderung) und der bald pathetischen, bald kleinlauten Kundgabe subjektiver Befindlichkeiten.“ (27) Diese Diskrepanz wird uns in der kritischen Auseinandersetzung sowohl mit Ingold wie mit Amann besonders beschäftigen.iii

Das Deutsche Aphorismus-Archiv besitzt Amanns „Fragmente“ in einem Widmungsexemplar für Arnfrid Astel (1933-2018) (mit Anstreichungen und wenigen Marginalien): „Für Arnfrid Astel, den Verbündeten, mein Brevier gegen den Tod“. Damit exponiert sich das Buch, von den zahlreichen Motti und Anspielungen im Text selbst abgesehen, durch eine weitere Position im aphoristischen Beziehungsnetz. Denn Astel (1933-2018) ist ja schon vor Jahrzehnten mit „Epigrammen“ hervorgetreten, die der Versform ungeachtet weitgehend auch Gesinnungsaphoristik produzieren. Erinnert sei nur an seine berühmte „Lektion / Ich hatte schlechte Lehrer. / Das war eine gute Schule.“ (652)iv

Man nähert sich dem Text von Amanns „Nichtsangst“ tunlich über seine Paratexte: den Titel, den Untertitel in seinen beiden Bestandteilen, den Motti. Der Neologismus des Titels evoziert das Thema noch ohne den fast monomanisch umkreisten Todesbegriff als die Angst vor dem Nichts. Die „Fragmente“ des Untertitels leiten sich natürlich einerseits von Novalis und der Romantik ab. Andererseits darf man die romantischen Bezüge nicht einsinnig als epigonale Nachfolge deuten; das erhellt schon aus der Veränderung des romantischen „immer nach Hause“ zu Amanns „Fragment“ in Frageform „Wer hilft uns ‚nach Hause‘?“ (149) Im Wesentlichen ist der Fragment-Begriff im Hinblick auf die Zersplitterung der Erfahrung in der Moderne zu sehen, nicht in Bezug auf ein Ganzes, sondern absichtlich gesetzt, wie es in den letzten Jahrzehnten vielfach ausgeführt wurde, zusammengefasst etwa in dem entsprechenden Artikel im „Wörterbuch der Rhetorik“.v Es sind Fragmente nicht über, auch nicht zu Leben und Tod, sondern „auf  Tod und Leben“, was ungeachtet der Umkehrung der Redensart (auf Leben und Tod) eine Pathetisierung intendiert. Die Motti beziehen sich mit dem „Horror vacui“, auf den der Autor im Text mehrfach zurückkommt („Konsum ist horror vacui: Angst vor der Leere.“, 74), auf den Inhalt, mit Novalis’ Definition „noch nicht im Ganzen fertig“ – „ doch einzelne merkwürdige Ansichten“ auf die Form und hier unmissverständlich auf die Verbindungslinien zwischen Romantik und Moderne.

Die 35 Kapitel der beiden Teile („Todfeindschaft“; „An Stelle Gottes“), eingeleitet mit Motti vom Gilgamesch-Epos und von Johannes von Tepl über (allein siebenmal) Hölderlin und Goethe bis Thomas Bernhard, zielen mit Titeln wie „Alles nichts“, „Der Anfang vom Ende“, „Krankheit Tod“, „Nichtsangst“, „Todesangst und Lebenstrieb“, „Unsterblichkeit“ oder „Trauer“ auf das eine Thema, das Amann hier obsessiv beherrscht: „Wenn ich meine Lebenshaltung in ein einziges Wort fassen müsste, wäre es dieses: Todfeindschaft.“ (118) Der Autor ist nach langer, schwerer Krankheit im Jahre 2013 verstorben, und man darf diesen biographischen Aspekt nicht übersehen, wenn man wenige Kernsätze zitiert:

„Auch an mir werden ja nun bald die ersten Todeszeichen auftreten. Oder trage ich sie schon, und ich habe sie nur übersehen?“ (65)

„Wenn ich meinen Widerstand gegen den Tod aufgebe, gebe ich mein Wesentlichstes auf.“ (123)

„Nein, meine Todesangst ist nicht Lebensangst, sondern Lebenshunger, der nicht gestillt werden kann, weil es den Tod gibt.“ (48)

Sie sind angesichts seines zu frühen Todes schlicht anrührend, zumal, wenn sie statt eines reinen Lamentos eine sinnliche Erfahrung ausdrücken: „Meine Scheu, mit bloßen Händen in die Erde zu greifen. Weil sie das ist, zu dem ich werden soll.“ (34) Aber das darf dessenungeachtet nicht der Maßstab für seine Texte als veröffentlichte Literatur sein. Statt neuer Einsichten, überzeugender Bilder begegnet vielfach Repetition. Restloser, unerbittlicher Reduktionismus wirbelt fast alle Sätze in einen Zirkel der Vorhersagbarkeit:

„Auch die Sexualität ist Ablenkung vom Tod.“ (83)

„Alles ist Ablenkung vom Tod, auch die Liebe.“ (86)vi

Selbst das „Stirb und werde“ der Natur hat in dieser Fokussierung keinen Platz: „Kunst: Schutz gegen den Tod. Kirche: Schutz gegen den Tod. Liebe: Schutz gegen den Tod. Natur: Tod.“ (129) Astel hätte seine Randbemerkung „trivial“ (157) an manch weiterer Stelle anbringen können:

„Das einzig Gerechte am Sterben: Jeder muss einmal. Und jeder muss nur einmal.“ (99)

„Das ist das Schwerste am Tod: dass die Welt nicht aufhört, wenn ich sterbe.“ (109)

Die Regel ist das, was Ingold „definitorische Rede (Behauptung, Verallgemeinerung, Forderung)“ nennt, etwa (im Sinne des Existentialismus): „Das Leben hat keinen Sinn. Trotzdem lebe ich es. Aus diesem „Trotzdem“ gewinnt das Leben seinen Sinn.“ (160) Die klassischen aphoristischen Techniken sind demgegenüber stark in der Minderzahl, aber nicht von ungefähr sind es diese Texte, die besonders ansprechen und nachhaltig wirken. Da wäre die aphoristische Frage:

„Die entscheidende Frage ist doch: Was hat der Kosmos davon, dass es uns gibt?“ (140)

„Wer, aus dem Nichts, könnte uns senden? Mit welchem Auftrag?“ (153),

da wäre die Paradoxie:

„Den Tod widerlegen. Dann sterben.“ (133)

„So tun, als ob es Sinn gäbe. Nur so gibt es ihn.“ (162)

„Objektiv kann der liebe Gott froh sein, dass es ihn nicht gibt.“ (150)

Die Umkehrung pointiert und setzt mehr Rezeption frei als die Menge der umstandslosen Behauptungen:

„Mein Gott, warum habe ich dich verlassen?“ (144; nach Mt 27, 46 und Psalm 22)

„Gott ist das Ebenbild des Menschen. Wir denken ihn uns. Nach unserem Bild.“ (51; nach 1. Mose 1, 27)

Sprichwörtliche Wendungen sind nur ausnahmsweise variiert:

„[…] Den Mund nicht zu voll nehmen, damit einem nichts im Hals steckenbleibt.“ (34)

„Man soll das Leben nicht vor dem Sterben loben.“ (93; den Tag nicht vor dem Abend).

In einem Kapitel „Galgenhumor“ hat selbst der Witz seinen Platz: „Wenn ich einmal sterbe, bin ich der letzte, der es erfährt.“ (94) Vor allem aber ist es die Definition, die einen Konnotationsspielraum öffnet, der ansonsten meist versperrt ist:

„Die Unterfläche der Welt ist die Oberfläche der Hölle.“ (149)

„Die Friedhöfe: die Naherholungszonen der Städte.“ (93)

„Überpopulation: der Angsttrieb der menschlichen Spezies.“ (50)

Dass sich der Aphorismus bevorzugt auch mit seinem Material, der Sprache selbst, auseinandersetzt („heimgehen“, 100; den Tod finden, 102; „Zeittotschlag“, 10), bildet sich hier gleichfalls in ‚anstiftender‘ Weise ab: „Grammatik ist das Verhältnis zur Welt, so wie Religion das Verhältnis zur Nichtwelt ist.“ (148) Zuweilen führt die Definition Amann sogar zu Prägungen von der Art, die zu „geflügelten Worten“ werden könnten und die unbedingt herausgehoben zu werden verdienen, etwa die Sehnsucht als „Trauer nach vorn“: „Sehnsucht ist Trauer um das, was noch nicht ist, Trauer nach vorn.“ (113; vgl. „Mein einziger Beitrag ans Leben ist eine Sehnsucht, die über es hinausgeht.“, 25) Dass auch er sich der Sinnfrage in solch intensiver Auseinandersetzung mit dem Tod nicht entziehen kann, war schon im Paradoxon zu erkennen. In Anspielung („Der Mensch. Das sinnbegabte Wesen.“, 161; auf Aristoteles: vernunftbegabt) und Definition wird sie ebenfalls umkreist: „Sinn: die Überlegenheit einer schönen Illusion über die schäbige Wahrheit.“ (161; vgl. 160)

Aus der Vielzahl der literarischen Bezüge – Pascal, Nietzsche, Camus (Revolte), Beckett, Jacottet, um nur diese noch zu nennen – ragen Kafka und Canetti heraus. Über Kafka hat Amann seine Dissertation verfasst. An vielen Stellen seiner Prosa weist er auf die Berührungspunkte mit seinem „großen Vorbild“ hin,vii und auch in „Nichtsangst“ fehlt es daran nicht:

„Es gibt keine Hoffnung. Eben darum müssen wir hoffen. Wenn es Hoffnung gäbe, bräuchten wir nicht zu hoffen.“ (152)

„Bring deinen Fall vor Gott, wenn du ihn nicht mehr verstehst. Deinen Fall oder Gott. Oder ist es dasselbe?“ (158)

Wieder sind es das Paradoxon und die aphoristische Frage, die die Texte qualitativ herausheben. Wesentlich weiter führt der Vergleich mit Canetti, weit über die Motti (45, 78) und Zitate (79, 87, 88) hinaus, auch wenn er hier nur in Stichworten anzureißen ist. Canettis „Buch gegen den Tod“viii, sammelt neben bis dahin Ungedrucktem die thematisch einschlägigen Aufzeichnungen aus seinen Bänden seit 1965, die sich aber in diesem Fall – um mit den Unterschieden zu beginnen – über 50 Jahre erstrecken und den Zweiten Weltkrieg zum Anlass haben. Die Form seiner Aufzeichnungen ist wesentlich vielgestaltiger, die damit zusammenhängenden Themen, etwa der Tod und die Mythen, sowie alles Phantastische, Groteske fehlen bei Amann. Die Parallelen wiegen dennoch schwerer.

Die Grundhaltung ist ohnehin gleich: der „Kampf gegen den Tod“ (70), ja „Todfeindschaft“ bei Amann (118), „Todeshass“ bei Canetti (290): „Das Buch über den Tod. Es ist immer noch mein eigentliches Buch.“ (245) Aber auch die überhöhte Rolle des Schriftstellers dabei verbindet sie:

„Solange ich Buch führe über mich, bin ich am Leben.“ (Amann 131)

„Mein sicherer Weg sind meine Bleistifte. Solange ich schreibe, fühle ich mich (absolut) sicher. Vielleicht schreibe ich nur deswegen.“ (Canetti 110)

Die Parallelen reichen bis in formale, intertextuelle und thematische Aspekte hinein, so beispielsweise die Umkehrung (bei Canetti wie bei Amann auf die Bibel bezogen): „Du sollst nicht sterben (das erste Gebot).“ (Canetti 19), den Bezug auf Camus, die Rolle der Mutter:

„Als meine Mutter starb, schwor ich mir, das Buch gegen den Tod zu schreiben.“ (Canetti 220; vgl. 21 v. 15. Juni 1942)

„Irrsininnge Angst vor dem Tod der Mutter. Darum vor jedem Tod. Sie hört erst auf, wenn sie tot ist.“ (Amann 41)

„Aphoristik auf höchstem Niveau“ also, „inhaltlich wie formal“, wie Ingold meint (28)? Das wohl nicht. Dazu ist das Verhältnis von konzis und pointiert Formuliertem und dabei anregend Weiterführendem zu eher schlichter, wirkungsarmer Aussage in Amanns „Fragmenten“ zu ungünstig. Sie können indes zu einer Reflexion über das Verhältnis von Repetition und Radikalität anregen. Gibt es eine Schnittmenge zwischen beiden, und fände sich Amanns „Nichtsangst“ exemplarisch darin wieder? Respekt fordern die „Fragmente“ in ihrer strengen „Revolte“ (120) der Leserin oder dem Leser allemal ab.

 


 

i Felix Ingold: Der kurzen Rede langer Sinn. Felix Philipp Ingold versucht, den Aphorismus auf den Punkt zu bringen. In: Volltext Nr. 1, 2021, S. 24-30.

iii Nebenbei bemerkt und in eigener Sache: Die besondere Rolle der Schweizer Aphoristik hat sich, abgesehen von älteren Autoren wie Ludwig Hohl, Max Rychner, Hans Albrecht Moser, Erich Brock, Kurt Marti, abgesehen auch von Amann und Ingold selbst sowie anderen Autoren, die dieser heranzieht, bis in unsere Wettbewerbe hinein abgebildet: besonders markant 2014, als mit Heimito Nollé, Felix Renner und Monica Heinz drei Schweizer Autor(inn)en die ersten Plätze belegten, aber auch 2016 (5. Platz für Brigitte Fuchs) und 2018 (4. Platz für Giuseppe Corbino, 5. Platz für Brigitte Fuchs).

iv Arnfried Astel: Neues (& altes) vom Rechtsstaat und von mir. Alle Epigramme. Frankfurt: Zweitausendeins 1978, S. 652.

v Eberhard Ostermann: Fragment. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 3. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, Sp. 454-464.

vi Dem kopulativen Konjunktionaladverb „auch“, das die Gleichheit von allem und jedem angesichts des Todes signalisiert, wäre dabei konkret nachzugehen: „Der Sommer ist ja auch nur der verkleidete Winter.“ (90); „Kreta: Auch unter solcher Sonne ist Tod.“ (90)

vii Rhys Williams: Jürg Amann. In: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur. München: edition und kritik, 105. Nachlieferung 2013, so S. 1, 5.

viii Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Hrsg. von Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München: Hanser 2014.

 

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