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Michael Rumpf über:
Martin Liechti: Kurzum. Aphorismen und Notate. Hohenems – Vaduz – München – Zürich: Bucher 2022.

 

Aphorismen wollen nicht rezensiert werden, sondern zitiert. Selbst dem Pauschalurteil nicht abhold, scheuen sie die Geschmacksurteile der Kritik. Als Einzelgänger und die Kälte von Kalenderblättern und Spruchleisten gewohnt, suchen sie die Wärme des Zusammenhalts zwischen zwei Buchdeckeln und trotzen dabei der Gefahr, von Rezensenten wahrgenommen zu werden. Ihr hat Martin Liechti seine „Aphorismen und Notate“ seit 2002 bereits zehnmal erfolgreich ausgesetzt, zuletzt dreimal beim österreichischen Bucher Verlag: Nach „Keiner weiss warum“ und „leicht daneben“ ist 2022 „Kurzum“ erschienen.

Seine Aphorismen und Notate sind alphabetisch geordnet von „absurd“ bis „Zuspruch“, wobei nicht alle Buchstaben bedacht werden und die genutzten nicht gleichmäßig. Die Überschriften sind, der Gattung angemessen, einwortig und bevorzugen das Substantiv. Sie erscheinen eher selten in den unter ihnen zusammengefassten Sprüchen und Reflexionen, die zuweilen auch unter anderer Flagge ihr Boot auf die See der Aufmerksamkeit auslaufen lassen könnten. Schließlich kommt selbst die bemerkenswerteste Gedankenarbeit bei Sammlung und Gliederung nicht ohne ein gewisses Maß an Willkür aus. Dennoch lohnt sich der alphabetische Zugriff, denn er fördert die Entdeckung vielfältiger Bezüge und Beziehungen zwischen Themen und Motiven, welche, nebeneinander gestellt, sich eher beeinträchtigen als erhellen.

Keineswegs erfordert „Kurzum“ eine Lektüre vom ersten Gliederungsabschnitt bis zum letzten, das Buch nutzt die Freiheit des Aphorismus und die des Aphoristikers, es kann überall aufgeschlagen und sprunghaft gelesen werden und gibt seine Freiheit an den Leser weiter. Dieser wird gleichwohl, zumal wenn er zur Lektüre immer wieder zurückkehrt, – wie es sich Sammlungen und Einzelsätze wünschen, denen das Bedürfnis nach Geselligkeit und damit Wiederbegegnung innewohnt, – bemerken, mit wieviel Bedacht Martin Liechti ihre Platzierung gewählt hat. So setzt etwa der erste Spruch der Sammlung „Die Kausalität spielt sich auf, als gäbe es keinen Zufall“ ein Glanzlicht, welches im letzten durchschimmert: „Natürlich bin ich verzweifelt, aber ich hoffe“. „Para-doxien finden sich durchgängig im Buch, sie spannen sich zwischen dem philosophischen Eingangs- und dem autobiographischen Schlussakkord in vielfältigen Variationen auf.

Der Einfall weigert sich, seine Verwandtschaft mit dem Zufall zuzugeben. Zu lieb ist ihm sein durch Plötzlichkeit bestätigter Erscheinungscharakter, zu lieb seine durch Originalität bescheinigte Selbstgewissheit. Martin Liechti misstraut dieser Weigerung und erdet seine Einfälle, indem er ihre Anlässe und Herkünfte zu erkennen gibt. Offen bekennt er Anreger seiner Gedanken, nennt u. a. Ariane Braml, Axel Sadkowsky, Hugo von Hofmannsthal und Heimito von Doderer beim Namen, bezieht sich auf die Aktualität von Corona bis zum Denglischen, liest die Zeichen des Fortschritts, ob Handy, Internet oder Künstliche Intelligenz, als Menetekel und wagt den Blick in die ferne Zukunft, auf den prognostizierten Kältetod des Kosmos. Liechti notiert Alterserfahrungen und Selbstzweifel und stellt dabei die Gleichungen Aphorismus = Rationalität und gefeilte Sprache in Frage. Bereits zu Anfang (5) urteilt er über sein Buch „Unsinnige Einfälle, nutzlose Absichten, kreuzfalsche Schlüsse – der übliche Leerlauf halt.“ Er gesteht, nicht alles begriffen zu haben, was er schreibt, und nennt das Ausgedachte „kalten Kaffee“ im Vergleich zur Realität. Er erwähnt die Gefahr, einen Gedanken beim Feilen zu zerbröseln (125), und das mühselige Warten auf die Idee. Dass die Kürze des Aphorismus sich durch Endgültigkeit legitimiert, bricht er auf, indem er seine Einsichten nicht auf die Gattungsgrenzen festlegt, sondern sie zur Reflexion oder zur Lyrik hin überschreitet, und einzelne in ihren möglichen Varianten vorstellt. Vielfach überlässt er dem Leser die Entscheidung darüber, welche als besonders gelungen angesehen werden können. Konsequenz der Einsicht, daß nicht jeder Aphorismus „bedeutend“ sein kann, die Produktion aber in Schwung bleiben soll (155). Vergänglichkeit und ihre Schwester, die Vergeblichkeit, stehen sich weniger eng als Verzweiflung und Hoffnung.

Liechtis Ehrlichkeit aus der Distanz des Alters, dem er etliche Weisheiten abgewinnt, erlaubt auch Zweifel an dem Selbstverständnis des Aphorismus als einer der Kritik und der Verbesserung der Welt zugewandten Gattung. Heißt es von der Kritik, sie sei gang und gäbe (34), so von ihrer Wirkung, „Wenn jeder den Weltlauf ändern könnte, bliebe alles beim altem.“ (48) Von solcher Skepsis nimmt der Autor sich nicht aus: „Wer kommt sich nicht manchmal vor wie ein Betrüger, der da lebt wie die Made im Speck? Und jammert dann weiter?“ Der Leser ist angesichts der literarischen Qualität dieser Sammlung froh über diese Inkonsequenz. Selbstwidersprüche verdunkeln die Welt nicht, sie erhellen sie. Auch wenn Liechti mit seiner Diagnose recht haben sollte, dass der Nachruhm keinen Trost mehr verspricht (139) und die Versuchungen des Schweigens vor dem „Niemandsland des Todes“ (140) stärker werden, Aphorismen und Notate sind ein – kurzum gesagt – begrüßenswertes Lebenszeichen der edelsten Art.

 

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