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Friedemann Spicker über:
Sascha Heße: Was zu bedenken war. Aphorismen. Reflexionen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2023.

 

Der Leipziger Schriftsteller und Komponist Sascha Heße (geb. 1976 in Magdeburg) ist seit 2004 mit zahlreichen Publikationen hervorgetreten, darunter seit „Bewegungen des Zweifels“ (2006) vorzugsweise mit philosophischen Fragmenten und Aphorismen. Wenn man den Aphorismus als Erkenntnis-Spiel in einem Grenzgebiet von Literatur und Philosophie versteht, dann steht Heße auch mit seinem neuen Buch „Was zu bedenken war“ eindeutig auf der Seite der Philosophie, die gegenwärtig von einer ganzen Reihe von Autoren wie Dirk Fetzer, Jürgen Große, Johann Hofbauer, Malte Oppermann, Rolf Friedrich Schuett, Martin Seel, Andreas Steffens und Marcus Steinweg in je individuellen Varietäten vertreten wird. Die „Spiel“art Heßes in diesem Konzert kann ich in dieser Rezension nur kurz und mit dem Verweis auf zwei ältere Publikationen exemplarisch deutlich machen. So deckt er die Spanne, die mit dem Doppelbegriff des Erkenntnis-Spiels bezeichnet ist, mit den Aphorismen und Wortspielen „GRENLOFREI ZENSEHEIT“ (2014) breit ab; dort setzt er die „grenzenlose Freiheit“ dieser literarischen Gattung im Wortspiel neu zusammen, wenn er etwa auf den Gedankenstrich geht (11), an steilen Thesen abrutscht (13) und den „Reizverschluss“ (43) und das „Indivi-Duell“ (33) zu ihrem aphoristischen Recht kommen lässt. Andererseits lässt sich „Im Luxus der Ideen“ von 2018 thematisch weitestgehend als Vorläufer in seiner Erkenntnis-Suche verstehen, wenn man formal davon absieht, dass die Texte dort in der Regel noch aphoristisch kurz sind („Wer zweifelt, der verzweifelt nicht.“, 8; „Der Tod lebt uns entgegen. Wir sterben auf ihn zu.“ , 105) und sich nur ganz ausnahmsweise im Kurzessay die Eigenart des aktuellen Bandes andeutet. Das Wortspiel jedenfalls ist hier bis auf solche Restbestände zurückgedrängt: „Im Weinen liegt Wahrheit.“ (63); „Er ist so einsam, so trostlos! Ihm fehlt die Phanta-Sie!“ (81)

Auch „Was zu bedenken war“ ist keine Aphorismensammlung, sondern eine genaue Komposition, die also keine Permutation (Vertauschung) zulässt, wie es eine (allzu) strenge Definition der Gattung verlangen würde. Ihre Fragen, die größtmöglichen, fügen sich in 24 Kapiteln mit Titeln wie „Unerschöpfliche Schöpfung“, „Die Frage nach dem Wozu“ oder „Keine höhere Weisheit“ aneinander, deren „Reflexionen“ genannte Essays sich zum Teil über mehrere Seiten erstrecken. Sprachtheoretisch lehnen sie sich im Kapitel XIV „Der Ausweg aus dem Fliegenglas“ (78) zum Verhältnis der Sprache (Zeichen) zu den Dingen an Wittgenstein an. Ihr Rahmen schlägt, in Kapitälchen gesetzt, den intellektuellen Grundakkord an: Das „PORTRAIT DES PHILOSOPHEN“ am Anfang besteht aus Paradoxen: „Er will die Dinge genau bedenken, / um sie letztlich doch / im Unerklärlichen zu lassen.“ (6); das Epitaph am Ende schließt die unablässige Fragebewegung: „AUF DAS GRAB DES PHILOSOPHEN. Herr, nach allen Bewegung des Zweifels / gib ihm die ewige Ruhe der Gewissheit!“

Es ist in seiner „Haltung“ ein unzeitgemäßes Buch. Das ist zunächst weder als Verdikt noch als Auszeichnung zu verstehen, fordert aber ausführliche begründete Beschreibung. Innerhalb der Gattung ist es unzeitgemäß in seinem imperativischen Du-Aphorismus („Folge dem emporstrebenden Tendenzen in dir, bis du im Zenit des Himmels schwebst! […]“, 94) und der gelegentlichen Didaktik („wir sollten uns“, 113), es ist unzeitgemäß „romantisch“ in seinem Glauben an das „Werk“ (68, 109), es ist unzeitgemäß, wo es ohne weiteres „die besondere Größe des Christentums (40) und „den Glauben an den Schöpfer“ (98) zum Ausdruck bringt (überraschend, auch im widerspruchskonzilianten Aphorismus, aber andererseits: „Gott existiert nicht“, 113), unzeitgemäß in seiner Berufung auf Goethe und vor allem auf Rilke, den der Autor besonders für seine Fortschrittsskepsis („Was immer der Mensch imstande sein wird: Das Geschöpf kann niemals größer sein als sein Schöpfer.“, 98) zum Zeugen anruft. Es ist unzeitgemäß (und achtunggebietend) auch darin, dass es bei größtmöglichem Anspruch in der Regel thetisch-proklamatorisch ausgerichtet und von den großen, den ersten und letzten fundamentalen Fragen, häufig kursiv betont, beherrscht ist, vom Anfang („Denkversuche“) bis zum Ende („Kann Denken […] zu dem Ziel führen, das wir anstreben: zur Erkenntnis der Wahrheit führen?“, 117). Heße zielt immer aufs Ganze und arbeitet sich an den anthropologischen Grundfragen ab; die tastenden Erörterungen dazu müssen abstrakt und manchmal auch tautologisch sein: „Ein Mensch zu sein bedeutet, den Sinn des Lebens darin zu erfüllen, als Mensch zu leben, nicht als Tier, nicht als Pflanze.“ (46) „Allein die Natur, die in Jahrmilliarden gewachsene, spendet das wahre Elixier des Lebens. Aber sie spendet es durch den Trank des Todes.“ (113): Wer sich in hier und da gravitätischer Sprache auf das Leben und die – personale – Liebe als höchste Werte beruft und sich zu solcher großen Begrifflichkeit aufschwingt, wird vielfach Skepsis auf sich ziehen. Es stellt sich dann beispielsweise die Frage, ob die grammatische Begründung „Denn um etwas zu verstehen, muss man leben – vor allem: Man muss gelebt haben.“ (97) mehr als eine Leerformel ist. Die bisweilen der Gattung ausgesprochen fremde, unelegante Sprache tut zum Teil das ihre dazu: „Der Grund für diese Voraussetzung ist folgender“ (39); „um nochmals die Eingangsfrage zu zitieren“ (39).

Andererseits sind die Erörterungen auch nicht selten anregend: „Darin besteht die Tragödie des Menschen, dass er eine Kankheit ist, die vergeblich versucht, sich selbst zu heilen.“ (33) Das bohrende Fragen ist da fruchtbar, wo der Autor am Beispiel des Hungers über den Unterschied von Prozess und Zustand reflektiert, zu „letztlich“ glücklich und „letztlich“ satt kommt, dort aber unerwarteterweise nicht stehenbleibt: „Aber was heißt ‚letztlich‘?“ (64) Auch hier hat die Sprache, bildlich-anschaulich, ihren Anteil: „Die Furcht des Lebewesens vor dem Tod ist die Furcht des Kreises davor, eckig zu werden.“ (115) Die gängige Moderne-Kritik im Kapitel XXI „Das neue Opium“ wiederum, die Kultur degeneriere zu Konsum und Unterhaltung, bleibt aphoristisch blass: „Nicht die Religion, die Unterhaltung ist das Opium des Volkes.“ (100); dass man „Freude an einer ernsten Sache“ findet, wenn man sie nur „intensiv und hingebungsvoll“ (104) tut, darf man gewiss für keine originelle Einsicht halten.

Heße schließt im Prinzip an den klassisch aphoristischen Selbstdenker an („erstens selbst denken, ganz bewusst und absichtlich also, und zweitens das zu denken, was wir wollen, nicht was wir sollen“, 8) und geht von solchen Fragen aus wie: „Warum bin ich dieser Mensch und kein anderer?“ (9), „Warum bin ich ein Mensch und kein Tier, keine Pflanze oder kein Stein?“ (9), „Warum vollzieht sich mein Leben im gegenwärtigen Augenblick?“ (10) Das bedeutet auch, dass es an Pointierung mangelt und es äußerst selten zur aphoristischen Zuspitzung des Themas kommt: „Das erste Mal geschieht immer zum letzten Mal, so wie sich das letzte Mal stets zum ersten Mal ereignet.“ (56) Was er fordert und übt, ist, dem Gattungskenner vertraut, als „fragmentarisches, künstlerisches Denken“ (16) gegen das System gerichtet; die eigenen Begleitaspekte, die daraus folgen, verdienen besonderes Interesse: der Begriff „Mysterium“ und das Bedürfnis nach Ausdruck (17). Auch mit dem dritten Zentralbegriff seiner Poetologie, der Lebendigkeit, bewegt sich Heße ebenso in dem Rahmen, den die Gattungsgrößen abgesteckt haben, wie in seiner Vorstellung eines gewissermaßen existentiellen Schreibens an der Grenze der Sprachlosigkeit: „Was ein Dichter sei? Einer, der den gewagten Versuch unternimmt, seine Sprachlosigkeit in Worte zu fassen.“ (239) Das Kapitel XIII „Die Mehrmaligkeit des Menschen“ schließlich hebt sich formal etwas ab, weil der Anteil der aphoristisch-konzisen Kürze hier deutlich stärker ist, nicht zum Nachteil der Texte: „Einmalige Erkenntnis der Menschen: Der Mensch existiert mehrmalig.“ 72; „Nichts Schlimmeres, als das dauerhafte Opfer der Pflichterfüllung anderer zu ein.“ (73); und in unverhoffter Aktualität: „Corona-Impfung? Uns fällt kein Zacken aus der Krone, dem Virus schon.“ (76)

Es bleiben in der Summe Achtung und Skepsis, voran Achtung für den Versuch, sich aufs Neue den größten Fragen auszusetzen, daneben aber auch Skepsis, was das restlose Gelingen dieses Versuches angeht.

 

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