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Alexander Eilers über:
Thomas Stölzel: Aus den Notizbüchern eines Menschforschers. Prosa. Aachen: Rimbaud 2017.
Thomas Stölzel: Zur Sprache gebracht. Aufzeichnungen, Notate und eine historische Phantasie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018.

 

Eine Frage der Gattung – Thomas Stölzels Kurzprosa

Ist der Aphorismus unberührbar geworden? Hat er einen dermaßen schlechten Ruf, dass namhafte Schriftsteller befürchten müssen, nicht mehr gelesen zu werden, wenn sie ihre Bücher mit diesem Etikett versehen? Und wird der Begriff kaum noch für längere, persönliche und weltzugewandte Reflexionen, sondern vor allem für pointierte Ein- bis Dreizeiler mit wortspielerischer Tendenz verwendet? Diese Fragen drängen sich beim Blick auf jüngere Publikationen auf, die – obwohl sie Leitsprüche, Lebensweisheiten sowie Sentenzen enthalten – bewusst auf die Gattungsbezeichnung ‚Aphorismus‘ verzichten. Dass sie stattdessen die Nähe zum Diarium (Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage, Bd. 1 & 2, 2012/2018; Frank Witzel: Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches Tagebuch, 2019), zur Notiz (H. M. Enzensberger: Fallobst. Nur ein Notizbuch, 2019; Henning Ritter: Notizhefte, 2010), zum Notat (Ulrich Schacht: Über Schnee und Geschichte. Notate, 2012), zur Aufzeichnung (Norbert Wokart: Schattenträume. Aufzeichnungen, 2018), zum Prosagedicht (Martin Walser: Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung, 2018) oder zum analytischen Gedankenspiel (Martin Seel: Nichtrechthabenwollen. Gedankenspiele, 2018) suchen, mag – wie Friedemann Spicker vermutet – mit der Hoffnung auf Markterfolg verbunden sein. Vielleicht gibt es in einzelnen Fällen sogar sachliche Gründe für die Distanzierung vom Sinnspruch. Eine klare Genrezuordnung könnte nämlich dem inhaltlichen Konzept eines Buches zuwiderlaufen (H. M. Enzensberger: Album, 2011) oder falsche Erwartungen an die Form wecken (Volker Braun: Handstreiche, 2019). Was aber, wenn ein ausgewiesener Experte und Liebhaber der Gattung die eigene Kurzprosa nicht als aphoristisch kennzeichnet?
Gemeint ist der Philosophische Praktiker Thomas Stölzel (Jg. 1964), der sich nicht nur mit seiner literaturwissenschaftlichen Dissertation Rohe und polierte Gedanken (1998) um den Denkspruch verdient gemacht hat. Vielmehr ist er auch als Essayist zu E. M. Cioran (1998) sowie als Ko-Editor bzw. Herausgeber von W. Somerset Maughams A Writer’s Notebook (2009) und Paul Valérys verborgenen Cahiers (2011) in Erscheinung getreten. Kein Wunder also, dass er nun – nach dreißigjähriger Beschäftigung mit aphoristischen Texten – selbst zwei Kollektionen mit ‚Reflexionsscherben‘ zusammengestellt hat. Bei der ersten handelt es sich um den 2017 im Aachener Kleinverlag Rimbaud erschienenen „Prosa“-Band Aus den Notizbüchern eines Menschenforschers (zit. als ANM), bei der zweiten um die „Notate“-Sammlung Zur Sprache gebracht (zit. als ZSG), die im Folgejahr von Königshausen & Neumann in Druck gegeben wurde. Beide Bücher – das eine 90, das andere 300 Seiten stark – behandeln anthropologisch-poetische Gesichtspunkte, insbesondere das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Sprache, Gedanke und Wort sowie zwischen Bild und Schrift. Erwartungsgemäß spielen ‚Fragen der Gattung‘ eine gewichtige Rolle, weshalb sowohl die „Notizen“, von denen einige schon 2015 unter dem Titel „Aus den Milchstraßentropfen“ im „Jahrheft für Literatur und Kritik“ Zeno abgedruckt wurden, als auch die „Notate“ bzw. „Aufzeichnungen“ ein Kapitel mit Meta-Aphorismen beinhalten. Dort wird die ‚heikle Form‘ unter Verweis auf das griechische Verb ?f????e?? als eine ‚Abgrenzung‘ bestimmt, die im wirkungsvollsten Fall mit der ‚Erweiterung des persönlichen Horizonts‘ einhergeht (vgl. ZSG, S. 71). Doch stilisiert Stölzel die Spruchweisheit gleichfalls zum „Denktelegram[m]“ (ebd., S. 72) bzw. zum „Mosaikstei[n] des geistigen Lebens“ (ebd., S. 73) und stellt Bezüge zu verwandten Genres wie dem Essay – „Essays sind Aphorismen, die noch nicht zu ihrer Kürze gefunden haben“ (ANM, S. 10) –, dem Sprichwort – „Aphoristiker sind diejenigen, die dazu neigen, sich ihre Sprichwörter selbst zu schreiben“ (ebd.) – oder dem Fragment her: „Aphorismen: künstliche Ruinen?“ (ebd., S. 11). Dass man sich hier an Begriffsbestimmungen von Klassikern erinnert fühlt, scheint Absicht zu sein, zumal sie auch explizit zu Wort kommen. So etwa Friedrich Nietzsche, der den Gedankensplitter zur „kammermusikalische[n] Form der Literatur“ (ebd., S. 9) erhoben hat, so der zwischen „systematischem“ und „assoziierendem Geist“ (ZSG, S. 73) differenzierende Ernst Jünger sowie Robert Musil mit seiner berühmten Definition „Aphorismus = das kleinste mögliche Ganze“ (ANM, S. 10). Wenn Stölzel dann aber noch Peter Sloterdijk zitiert (vgl. ZSG, S. 73) und gemeinsam mit Elazar Benyoëtz vor der Gefahr warnt, den „Gedanke[n]“ durch Überspitzung „an der Pointe [zu] erhängen“ (ebd., S. 72), wird klar, dass er in seinen gattungsreflexiven Beiträgen weniger Eigenes als ‚Erlesenes‘ zum Besten gibt. Um also die Frage zu beantworten, warum er die vorliegenden Bücher nicht als Aphorismenbände ausgewiesen hat, muss man weitere Stellen zu Rate ziehen.
Dabei stößt man unvermittelt auf einen längeren Text mit dem Titel „Blitze und Tropfen“. In Zur Sprache gebracht bildet er einen separaten Abschnitt und geht metaphorisch-übertragend auf zwei verschiedene Spielarten der ‚Verkürzung‘ ein – zum einen auf „elektrostatische Gebilde aus Wörtern und Gedanken“ (ebd., S. 66), wie sie in Lichtenbergs Sudelbüchern ‚aufblitzen‘, zum anderen auf „kleinste Flüssigkeitsmengen von kugeliger oder länglich-runder, ovaloider Form“ (ebd.), ohne deren Aufladung kein Gewitter entstehen könnte. Wiewohl ‚Tröpfchen’ hochenergetische Zustände überhaupt erst ermöglichen, sind sie außerstande, selbst Funken zu schlagen. So mögen „heftig auftretende, oft ungewöhnliche Einfälle“ zwar ‚Steine höhlen‘ oder ‚das Fass zum Überlaufen bringen‘, doch wäre es verfehlt, sie bereits als ‚Geistesblitze‘ zu begreifen. Das ist insofern relevant, als die Mehrzahl von Stölzels „Notizen“ neologistische Komposita („Selbstentwicklungsspekulanten“), elliptische Devisen („Den Schrei schreiben“), rhetorische Fragen („Wo fängt die Vergangenheit an?“), Er-Sentenzen („Er lebte, lachte, liebte mit Fragezeichen“) sowie Stimmungsbilder („Windwege im Gras“) sind. Als „Ideenbüffet“ (ANM, S. 25) stehen sie geballt am Anfang des Buches und werden erst sukzessive mit anderen Formen durchmischt – darunter die Anekdote, das Aperçu, das letzte Wort, das Zitat, die kommentierte Lesefrucht oder der Kurzaufsatz. Was Letzteren betrifft, hat der Verfasser schon in seiner Doktorarbeit Abgrenzungsbedarf vom Aphorismus angemahnt. Indem er nun aber ausdrücklich Differenzen der beiden Textsorten thematisiert – „zugespitzt, verkürzt, pointiert, überpoliert bisweilen [die eine], mal länger, ichbezogen und weltoffen, protokollaffin, tagebuchnah und doch von einem Diarium unterschieden [die andere]“ (ZSG, S. 72) –, lässt er erahnen, weshalb Aus den Notizbüchern eines Menschenforschers nicht den Zusatz ‚Aphorismen‘, sondern „Prosa“ trägt. Denn die enthaltenen Beiträge – mehrheitlich „tropfengroße Wörter“ (ebd., S. 22) – sind viel zu heterogen, um in einer einzigen Genrebezeichnung aufzugehen. Hinzu kommt, dass sich tatsächlich nur wenige „Gedankenblitze“ (ZSG, S. 66) unter den „Notizen“ befinden und dass sie häufig etwas konstruiert – „Der Augen-Blick zeigt, was im Augenblick möglich ist“ (ANM, S. 39) – oder verstiegen anmuten: „Prüfe dich: [W]illst du ein runder oder ein spitzer Stein des Anstoßes sein?“ (ebd., S. 40). Ganz selten findet man qualitativ überzeugende Sätze wie „Jeder sieht auf seine Weise gleich schlecht“ (ebd., S. 44), weshalb die Stärke des Autors eher bei essayistischen Texten als bei Spruchweisheiten zu suchen ist.
Insofern verwundert es nicht, dass sich Zur Sprache gebracht außer einer „historischen Phantasie“ (ZSG, S. 7) über die Entstehungsbedingungen von François de La Rochefoucaulds Maximes et réflexions morales ausschließlich aus Aufzeichnungen und Notaten, nicht aber aus Denksprüchen zusammensetzt. Gleichwohl bleibt die Aphoristik ein ständiger Bezugspunkt. Nicht nur, dass Stölzel in Lichtenbergs viel zitiertem Sudelbuch-Eintrag „Er las immer Agamemnon statt ‚angenommen‘, so sehr hatte er den Homer gelesen“ (G 187) erste Ansätze zu Sigmund Freuds Fehlleistungstheorie erblickt. Vielmehr schlägt er im einleitenden Kapitel, das die Entwicklung des Menschen vom homo sapiens über den ‚um die eigene Weisheit wissenden‘ homo sapiens sapiens zum schreibkundigen homo symbolicus anhand jungsteinzeitlicher Felsmalereien nachzeichnet, ebenfalls einen Bogen zur Moralistik:

„[Das Périgord] ist eine der Gegenden des späteren Europa mit der längsten Bildungskontinuität. Lebens- und Denkgegend auch der Moralisten Montaigne, Montesquieu, Maine de Biran und Joseph Joubert. Die berühmteste Höhle, Lascaux, befindet sich auf einem gleichnamigen Flurstück, das den Nachfahren des Duc de La Rochefoucauld gehörte“ (ebd., S. 16).

Vor diesem Hintergrund darf der Verfasser durchaus als gattungstreu gelten – und zwar in dem Sinne, dass er sich beständig mit der Spruchdichtung befasst und großen Wert auf terminologische Präzision legt. Mag es auch einzelne Kurzprosa-Autoren geben, die Abstand vom Gedankensplitter nehmen – „Aphorismen sind für mich Sätze, die so stolz sind auf sich selber, dass es auf das, was sie sagen, nicht mehr ankommt“ (Martin Walser) –, so trifft dies doch keinesfalls auf Stölzel zu. Seine beiden Veröffentlichungen enthalten substanzielle Beiträge zur Gattungstheorie und regen neben einer Neubewertung von Ernst Meister – „Hinter dem Lyriker und dem Hörspielautor ist der Aphoristiker […] noch nicht recht hervorgetreten“ (ANM, S. 42f.) – auch zur weiteren Beschäftigung mit der Menschenkunde an. Hierbei dürften sich Vergleiche mit Ulrich Sonnemanns Negativer Anthropologie (1969) sowie mit Andreas Steffens‘ Anthropoesie (2019) besonders lohnen: „Valérys Frage: Que peut l‘homme? (Was kann der Mensch?) eröffnet eine andere, eine aufs Potential weisende und wertschätzendere Perspektive als die Frage: Was ist der Mensch? (die überdies leicht ins Ideologische münden kann)“ (ANM, S. 77).

 

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