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Jürgen Wilbert über:
Ulrich Horstmann: Blasser Schimmer – Hirnbilder 2017-2020, restlichtverstärkt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2021

 

Der Autor ist in der Gegenwartsaphoristik wahrlich kein Unbekannter. Geboren 1949 in Bünde (Westfalen), nach dem Studium der Anglistik und Philosophie sowie der Promotion und Habilitation war er bis 1987 Hochschullehrer in Münster, danach Professor für Englische und Amerikanische Literatur an der Universität Gießen. 1984 meldete sich Horstmann erstmals in seinem Aphorismenband „Hirnschlag“ „mit herausfordernd grellen, bisweilen aber auch blitzgescheiten“ ‚Berserkasmen‘ zu Wort“ (so der Klappentext). Nach diversen Bänden, so „Infernodrom“ (1994), „Einfallstor“ (1998), „Hoffnungsträger“ (2006), konnte er 2019 „Das Gesamtwerk. Werke III. Gedichte und Aphorismen“ vorlegen.

In seinem ureigenen Sprachduktus verwendet er seit geraumer Zeit den „Restlichtverstärker“, „um die Dunkelzonen diverser Innen- und Gegenwelten zu erkunden“ (Klappentext). Im Titel bezieht sich der Autor auf einen umgangssprachlichen Begriff, er variiert die Redewendung „keinen blassen Schimmer haben“ und wendet diese Redensart ins vermeintlich Positive. Der neue Band beinhaltet neben kurzen, zum Teil kürzesten und vorzugsweise wortspielerischen Aphorismen längere, essayistische gesellschaftskritische Kommentare bzw. Glossen, so u. a. über den „Terrorismus auf Talfahrt“ (S. 7). Es finden sich aber auch Aufzeichnungen ganz persönlicher Erfahrungen: „großer“, etwa mit dem Wissenschaftsbetrieb der Uni Marburg (130), und auch „kleiner“, etwa mit einer jungen Scheinakazie, die im Wurzelholz wieder austreibt (102); wörtlich heißt es in dem zwölf Zeilen langen Text: „Hätte ich der Wiedergängerin das Austreiben nicht ausgetrieben, hätte die Konkurrenz um Wasser und Nährstoffe den Setzling alt aussehen lassen. […] Du und ich, wir sind uns grün.“

Derart komplexen, nur schwer zu erschließenden, zum Teil gar hermetischen Texten stehen solche lakonisch pointierten Sätze gegenüber: „Solange man sich im Sensenblatt spiegeln kann, hat er seinen Schnitt noch nicht gemacht.“ (7) / „Auch die Wut im Bauch will ausgetragen werden, bis die Zeit erfüllt ist. Die anschließende Sturzgeburt ist Ehrensache.“ (102) / „Egoist genug, um sich das Selbstmitleid vom Hals zu halten.“ (130)

Horstmanns Texte sind gleichermaßen denkanstrengend wie denkanregend und decken thematisch die gesamte Bandbreite des menschlichen Erfahrungsspektrums ab. Dafür seien abschließend noch zwei prägnante Beispiele angeführt. Zum Thema der Erinnerungen „seiner alten Tage“ heißt es metaphorisch: „Nach ein paar Anläufen in Richtung Neuauflage hat man ein Einsehen und bescheidet sich angesichts der Front zugekehrter Rücken mit den großartigen Erinnerungen an das erste Mal.“ (10) Der immens „sprachschöpferische“ Autor scheut nicht vor wortwitzigen Sprüchen zurück, sie finden sich insbesondere auf den letzten Seiten des Buches (ab S. 152): „Die Zeit verstreicht, und man hat das Nachsehen, was davon auf dem eigenen Butterbrot gelandet ist.“ (152) / „Kröten schlucken, unkt der Lebensberater, das hilft gegen den Frosch im Hals.“ (153)

Resümierend ist festzuhalten: Diese Neuerscheinung stellt wahrlich eine aphoristische Quelle dar für alle, die übersprudelnde sprachliche Kreativität und scharfsinnige Gesellschafts- und Zeitkritik zu schätzen wissen.

 

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