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Jürgen Wilbert über:
Winfried Schindler: Die Paradoxie der Wahrheit. Aphorismen. Schwäbisch-Gmünd: Einhorn- Verlag 2020

 

Der Autor legt hier sein sechstes Buch mit Aphorismen vor. Nach dem Studium  u.a. der Germanistik, Philosophie und Pädagogik war Schindler als Gymnasiallehrer tätig. Er veröffentlichte vor allem Aufsätze in Fachzeitschriften und Büchern, einen Schwerpunkt bilden hier seine Publikationen (gemeinsam mit Paul Barié verfasst) zu dem antiken Schriftsteller Martial, dessen Schwerpunkt Epigramme darstellten. Barié  hat eine lesenswerte Einführung zum neuen Aphorismen-Band geschrieben. Darin geht er zum einen gattungsgeschichtlich auf die Strukturmerkmale des Aphorismus ein, zum anderen auf Schindlers Schreibstil und vergleicht ihn mit „Stolpersteine legen“: „…und wer stolpert, (…) hält inne – und beginnt im besten Fall selber zu denken und gedanklich an die auffüllende Kontext-Herstellung zu gehen, zu der die >Magerheit< des Aphorismus veranlasst.“ (S. 12) Erhellend sind vor allem Bariés Ausführungen über unterschiedliche  kulturgeschichtliche Wahrheitsdefinitionen.

Der Autor hat seinem Band  drei Fremdaphorismen vorangestellt, darunter auch diesen von Ludwig Marcus: „Es gibt mehr Realitäten, als die Realisten ahnen.“ Er hat das Buch in sechs Kapitel bzw. Themengruppen gegliedert, Barié nennt sie in seinem Vorwort assoziative  „Gedankennester“ (S. 12). Zur besseren Orientierung wäre ein Inhaltsverzeichnis mit Stichworten ganz hilfreich gewesen. So muss der Leser / die Leserin selbst den „roten Faden“ finden und aufnehmen. Im Kapitel I geht es vorzugsweise um  grundsätzliche Fragen der Wahrheit und Sinnsuche. Gleich zu Beginn stellt uns Schindler mit diesen überpointierten aphoristischen Definitionen vor eine Denkaufgabe: „Die Wahrheit ist nicht einmal eine Metapher.“ Und: „Sinnfragen sind sinnlos.“ (18) Auf den folgenden Seiten bietet er uns verschiedene Interpretations- und Lösungsmöglichkeiten an, wie etwa „Die unlösbaren Rätsel unseres Lebens machen den Sinn unserer Existenz aus.“ (19) In skeptischer Manier stellt er häufig vermeintliche Gewissheiten in Frage: „Bin ich Herr meiner Gedanken?“ (36) / „Wie sollte der, dem die Welt unverständlich ist, sich selbst verstehen?“ (26) So fordert Schindler immer wieder seine Leser / Leserinnen mit Paradoxien in seinen Gedankenspielen zur geistigen Mitarbeit bzw. zum Fortführen der Gedankengänge auf.

Die Kurztexte in Kapitel II setzen sich alle mit dem Kernthema der Liebe auseinander. Auch hier dominiert die Stilfigur des Widersprüchlichen: „Zu geringer Abstand  voneinander verhindert Nähe.“ (43) In ähnlicher Weise hat sich bereits Hans Kudszus (1901-1977) einmal geäußert: „Abstand halten ist der kürzeste Weg zum anderen.“  Hier bewegt sich Schindler oft eher auf lyrischen Pfaden: „In der Sprache der Liebe werden Wörter  zu Blumen.“ (44) / „In der Liebe sind Ich und Du mehr als Ich und Du.“ (47) / „Liebe siedelt in einer Seelenschicht, die tiefer liegt als Denken und Fühlen.“ (48) Gattungsspezifisch überzeugender sind seine Aphorismen, wenn sie das existenzielle In-Frage-Gestelltsein des Menschen thematisieren und reflektieren, wie in Kapitel III, in dem sich alles um Gott und Glaubensfragen dreht: „Lässt, wer betet, auch Gott zu Worte kommen?“ (55) / „Lacht sich Gott über die Lösungen der Religionen ins Fäustchen?“ (60) An manchen Stellen wirkt das Wortspielerische zu naheliegend und konstruiert, etwa auf den Seiten 62 und 63: „Wer von Gott abfällt, fällt auf ihn zu.“ Und: „Du kannst vom Glauben abfallen, aber nicht von Gott.“ (64) / „Fühlst du dich auch von allen verlassen, auf Gott ist Verlass.“ (64) Verweist hier nicht auch der eigene Aphorismus auf ihn selbst?:  „Wer mit der Sprache spielt, wird zu ihrem Spielball.“ (80)

Im Kapitel IV befasst sich der Autor mit dem Themenkreis der Künste. Dazu zählen auch aphoristische Definitionen für den Aphorismus und den Aphoristiker. Diese sind für ihn „Denker des Undenkbaren“ (76) und zudem „geizig“, denn „sie sparen an Wörtern.“ (77) Er variiert gleich an zwei Stellen den geläufigen Topos „zwischen den Zeilen lesen“: „Am meisten feilt der Aphoristiker an den Gedanken, die er zwischen die Zeilen stellt.“ (8, 75) Zwischenfrage: Stellt der Autor überhaupt bewusst „Gedanken …zwischen die Zeilen“?

Im Kapitel V finden wir Vermischtes, darunter häufig auch rein Wortwitziges, ja Kalauerndes: „Ehe: Liebe unter Platzangst.“ (81) Wer denkt bei seinem Text über die Vernunftehe nicht gleich an Tucholsky? „Zu einer Vernunftehe bedarf es zweier Dummer.“ (81) Bei Tucholsky heißt es deutlich bissiger:  „In der Ehe pflegt gewöhnlich einer der Dumme zu sein. Nur wenn zwei Dumme heiraten – das kann mitunter gut gehen.“ In diesem vorletzten Kapitel überwiegen Texte, die eher Bonmots darstellen und in  ihrer Pointe vorhersehbar sind, beispielsweise in diesen „Wer…, der…“-Sätzen bzw. Variationen von Redensarten: „Wer sich verheizen lässt, hat kein Feuer mehr.“ / „Wer nachtragend ist, kann nicht vorangehen.“ / „Wer nicht hören will, redet viel.“ / „Wer A sagt, sollte nicht auch noch B sagen.“ (87-90)

Das abschließende sechste „Kapitel“ umfasst lediglich diesen einen aphoristischen Ratschlag: „Versuche nicht einen Menschen zu verstehen; lass ihm seine Tiefe!“ Resümierend bleibt festzuhalten, dass die Aphorismen im ersten und dritten Kapitel, die sich mit philosophischen Begriffen und Existenzfragen auseinandersetzen, am überzeugendsten und originellsten sind. Denn sie sind es auch, die als „Stolpersteine“ in besonderer Weise die Reflexion und den geistigen Dialog mit den Lesenden anstoßen und damit am ehesten dem eigenen Anspruch an die Gattung des Aphorismus gerecht werden.

 

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