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Alexander Eilers über:
Hanspeter Rings: Endlich ewig sein. Aphorismen, Posts und Sinngedichte. Mannheim: Waldkirch, 2025.

 

Fleisch vom selben Knochen? Hanspeter Rings‘ mystisch-philosophische Aphoristik

 

Noch nie war das Zeitlose anachronistischer. Noch nie durfte Mystik, insbesondere in lehrhaft-denkspruchartiger Form, auf weniger Entgegenkommen hoffen. So wurden zwar schon die deutschen Expressionisten Kurt Hiller (1885–1972), Franz Marc (1880–1916) und Rudolf Leonhard (1889–1953) dafür gerügt, in ihren das ‚Wesen der Dinge‘ ergründenden Aphorismen eine „verlogene Psychologie“ (Franz Jung) betrieben zu haben, doch gilt die Suche nach verborgenen Wahrheiten in der Gegenwart mehr denn je als irrational. Zudem steht die strenge Begriffsarbeit der mit Transzendenz, dem Göttlichen oder dem Absoluten befassten Mystiker zur Disposition. Dem tiefreligiösen, auf Deutsch als Zeichen am Weg veröffentlichten Reflexionstagebuch, das der 1961 durch einen Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld der Nachwelt hinterlassen hat, wird bis heute bestenfalls „glasklare Undurchsichtigkeit“ (Anton Graf Knyphausen) attestiert. Gesteigerte Abstraktion, wie sie einem auch bei Ludwig Wittgenstein (1889–1951) in seinen Approximationen an das ‚Unaussprechliche‘ begegnet, gilt gemeinhin als sperrig oder unzugänglich. Der Hauptkritikpunkt der Materialisten am homo mysticus ist gleichwohl das Bestreben, sich durch Abkehr von der Sinnenwelt in die Tiefe des Seins zu versenken. Als Eskapist abgestempelt, unterstellt man ihm, sich den drängenden Problemen der Zeit zu entziehen sowie die unaufhaltsame Säkularisierung nicht anerkennen zu wollen. Kein Wunder, dass sich Rudolf Brandner 1992 dazu veranlasst fühlte, eine „Rehabilitation philosophischer Mystik“ zu verfassen, in der er das aphoristische „Gedankenwerk“ seines akademischen Lehrers Wolfgang Struve (1917–2011) vorstellt und in der geschmähten Geisteshaltung lebensförderliches Potenzial ausmacht: „Philosophische Mystik, die nicht die ‚Welt‘ erklärt, sondern das Verhältnis zu Welt klärt, könnte […] zur geistigen Grundform eines Menschseins werden, das den Gegensatz von Philosophie und Religion als geschichtlichen hinter sich gelassen hat.“

In dieselbe Kerbe schlägt der 1955 in Duisburg-Ruhrort geborene Hanspeter Rings. Kann er als langjähriger, mittlerweile pensionierter Historiker der Stadt Mannheim auf vielfältige lokal- bzw. wirtschaftsgeschichtliche Publikationen zurückblicken, so hat er unlängst seinen vierten Aphorismenband nach Knapp über der Erde (1997), Einen Erdwurf weit (2001) und Erde am Himmel (2007) herausgebracht. Beim traditionsreichen Verlag Waldkirch erschienen, trägt die 118 Seiten umfassende Sammlung den wortspielerisch-programmatischen Titel Endlich ewig sein. Denn was sich auf den ersten Blick wie ein Motto irdischer Erlösungssehnsucht liest, vermittelt bei genauerem Hinsehen die ganze Doppelbödigkeit mystischen Denkens, kann doch das Wort ‚endlich‘ mal als Adverb, mal als Adjektiv verstanden werden. Wenn es also einerseits ‚zu guter Letzt‘, andererseits ‚zeitgebunden, vergänglich‘ bedeutet, finden – entgegen gängiger Vorurteile – Jenseits und Diesseits in gleichem Maße Beachtung, so wie sich der auf dem Umschlag abgebildete, in ein ruhendes Gewässer fallende Tropfen nicht nur mit dem großen Ganzen zu vereinigen trachtet, sondern in seiner aktuellen Vereinzelung bereits Wasser ist. Demzufolge zeugen die in elf Kapitel eingeteilten Aphorismen, Posts und Sinngedichte, die nach der „Vorbemerkung“ (S. 11– 13) des Verfassers vom „höchst eigennützigen ICH […] in eine ästhetische Ausrichtung unseres Seins (ÄSTHETISCHES) übergehen, um sodann vom SELBST zu handeln“, durchweg von der „Einheit in einem zeitlosen [wie] auch kollektiven großen Jetzt“ (S. 11). Hierzu passt, dass die knapp 700 Merksätze (S. 15–37, 64–73, 113–117) logisch voranschreiten und streckenweise ineinander verschränkt sind, wohingegen die ursprünglich auf Rings’ Facebook-Seite veröffentlichten, allesamt mit einem Datum versehenen Notate, Trouvaillen oder Kommentare (S. 38–63, 87–112) keine formale „Verflochtenheit“ (S. 12) aufweisen, aber immer wieder um dieselben Themen kreisen. Hierzu zählt Wissenswert-Hintergründiges zu religiösen Feiertagen ebenso wie Kosmologisches und Tagespolitisches. Auch persönliche Erinnerungen kommen hier vor, wobei der Autor Kindheitsszenen auf dem elterlichen Schleppkahn Adesto Revue passieren lässt, schildert, wie er Anfang der 1980er Jahre durch Stimm- und Gesangsstudien den spirituellen Kern von Kunst erfuhr, oder die Warnung des Mannheimer Philosophen Herbert Kessler (1918– 2002) vor effekthascherischem Esprit wiedergibt: „Wenn der Aphorismus atemlos wird, weil die Vitalität des Denkens nachlässt […], dann werden die Geistreicheleien mit gequältem Lachen, schlimmer noch, mit einem Lächeln der Nachsicht quittiert“ (S. 62). Überhaupt scheinen sich diese im Konkreten wurzelnden Posts – möglicherweise sogar die zur Satire tendierenden Epigramme (S. 74–81) – komplementär zu den generalisierenden Leitgedanken zu verhalten. Während nämlich die einen Äußerliches in locker-gewitztem Stil darbieten, schlagen die anderen mit ihren wissenschaftskritischen, sprachphilosophischen sowie theologischen Einsichten einen ernsten Ton an. Entsprechend erfährt man, dass „[d]em Messen das Wohlwollen des Schätzens fehlt“ (S. 15), dass „ein Bild mehr als tausend Worte sagt“, allerdings nur, wenn man „es auch sprechen [lässt]“ (S. 23), und dass „Gott nicht die Ursache [ist], eher schon Wirkung, die sich verursacht“ (S. 114). Hinzu kommen ontologische Betrachtungen zum „Punkt“, dessen „Punkt [es gerade] ist, [nicht zu sein]“ (S. 15), zum „Augenblick“, in dem selbst „[Langwierigstes] geschieht“ (S. 25), oder zur condito humana: „Wir sind Schatten einer Idee, die wir zu beleuchten haben“ (S. 36). Dass in solchen Sätzen das Paradox als rhetorisches Mittel bevorzugt wird, erklärt sich aus dem dialektischen Ansatz des Urhebers. Wenn er dann aber noch produktionsästhetische Überlegungen anstellt – „Gedanken gehen, Ideen kommen“ (S. 22) – und sich in Kritik an der zeitgenössischen Literatur übt, der er nicht allein eine inflationäre Apodiktik – „Das Ausrufezeichen ist, was der Punkt einmal war“ (S. 29) –, sondern zugleich Preziosität vorwirft – „Sein manierierter Ausdruck machte einen peinlichen Eindruck“ (S. 23) –, erweist sich die vorgebrachte Schelte als Bumerang. Schließlich wimmelt es in Rings’ Band nur so vor Sätzen, in denen das Verb, alternativ das Hilfs- bzw. Modalverb, bewusst an die letzte Stelle gerückt wird, um möglichst tiefsinnig zu klingen. Auch die Unart, die Mehrdeutigkeit einzelner Ausdrücke durch Bindestriche im Wortinnern kenntlich zu machen, muss in diesem Zusammenhang moniert werden. Auf orakelhafte Beiträge wie „Seine einzige Eigentümlichkeit seinem Eigentum ent-sprang“ (S. 18) oder „Das Ein-Sargen wieder mal an den Winkeln scheiterte“ (S. 116) hätte man daher verzichten sollen – namentlich dann, wenn einer die Aufwertung der Mystik im philosophischen Diskurs anstrebt.

Denn was der Autor beabsichtigt, ist das Aufbrechen etablierter Klischees. Dies gelingt ihm insofern, als er das Innewerden des Überwirklichen von konventionellen Formen der Frömmigkeit abgrenzt – „An Gott glauben, warum nicht; doch bitte nicht auch noch an den Glauben“ (S. 29) –, in seiner Polemik gegen den wiedererstarkten Bellizismus Diesseitsbezogenheit beweist – „Um wieviel bequemer ist es, der Opfer zu gedenken, als sie zu vermeiden“ (S. 18) – oder das verirrte, metaphysisch obdachlose Subjekt der Moderne als ein nach wie vor sinnbedürftiges Wesen charakterisiert: „Was der Mensch sucht, ist das Unverlorene“ (S. 85). Als problematisch entpuppt sich derweil sein Synkretismus, der ihn dazu verleitet, die verschiedensten religiösen und geistigen Strömungen als Fleisch vom selben Knochen zu betrachten. Nicht nur, dass Rings seinem Buch etliche Zitate aus den gnostischen Schriften von Nag Hammadi vorschaltet; vielmehr reicht sein Referenzinventar gleichfalls von den indischen Upanishaden über die christlichen Mystiker des Mittelalters bis zum deutschen Idealismus. So mag es zwar noch angehen, dass er sich auf die allerlei Geheimlehren rezipierenden Helena Blavatsky (1831–1891) und Rudolf Steiner (1861–1925) beruft. Die schamanistische Geisterbeschwörung mit der zwar kulturübergreifenden, wiewohl nur von ausdifferenzierten Theologien (Taoismus, Buddhismus, Brahmanismus, Sufismus) hervorgebrachten unio mystica zu assoziieren, überspannt schlussendlich aber doch den Bogen. Sonach lässt Ewig endlich sein neben formalen Eigenwilligkeiten auch inhaltliche Defizite erkennen. Der Widerspruchsgeist des Buches bleibt davon freilich unberührt, weshalb es vor allem konservativen, an spirituellen Fragen interessierten Kulturkritikern empfohlen sei: „Dem Zeitlosen schlägt keine Stunde“ (S. 84).

 

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