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Heimito Nollé über:
Norbert Wokart: Strandgut. Aphorismen, Notizen, Ereignisse. Würzburg: Königshausen und Neumann 2025.

 

Der Tübinger Autor Norbert Wokart knüpft in seinem neuen Buch «Strandgut» unter anderem an seine frühere Veröffentlichung «Treibgut» (2005) an. Wie schon in diesem Werk versammelt auch «Strandgut» eine Vielzahl von Beobachtungen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen. Wokart verfolgt das Ziel, Kunde zu geben «von den vielfältigen Facetten der Welt», was sich nicht zuletzt in der Struktur des Buches widerspiegelt: Auf eine künstliche Einteilung in Kapitel verzichtet der Autor. Stattdessen sind die Texte eben wie Strandgut vor dem Leser ausgebreitet – es liegt an ihm, einzelne Gedanken aufzugreifen, zu begutachten oder wieder fallenzulassen.

Wokart bewegt sich dabei, wie auch in seinen vorherigen Arbeiten, an den Grenzen der literarischen Gattungen. Der Untertitel «Aphorismen, Notizen, Ereignisse» deutet es bereits an: Strandgut ist keine reine Sammlung von Aphorismen. Viele der Texte erinnern eher an Notizen, wie sie in einem Denktagebuch festgehalten werden. In seiner «Kurzen Geschichte des deutschen Aphorismus» verortet der Literaturwissenschaftler Friedemann Spicker den Autor daher an der Grenze zu Aufzeichnung, Tagebuch und Journal. Dazu passt, dass nicht wenige Sätze aus der Ich-Perspektive formuliert sind – sei es in Form von Anekdoten, Alltagsbeobachtungen oder Lektüreerfahrungen.

Thematisch gestaltet sich die Strandpromenade, zu der das Buch einlädt, abwechslungsreich. Wokart entführt den Leser bald zu altägyptischen Liebesliedern, bald teilt er ihm seine Ansichten über Veganismus oder päpstlichen Pomp mit. Naturgemäß (der Autor hat Jahrgang 1941) nehmen Erinnerungen und Gedanken über das Altern und den Tod viel Raum ein, und in diesem Kontext finden sich auch einige der gelungensten Texte. Wenn der Autor seine gealterten Hände betrachtet und sich dabei erinnert, wie ihn als junger Mensch solche Hände abstiesßen, ist das anrührend. Wokart versteht es auch, das Thema in eine konzentriertere aphoristische Form zu bringen: «Selten kommt der Tod gelegen, meistens auch noch zur unpassenden Zeit», oder: «Der Tod ist sehr diskret, und so weiß kaum einer, dass er zum letzten Mal seine Haustür abgeschlossen, dem oder jenem die Hand gegeben oder seine letzte Spargeln gegessen hat.»

Zu den eindrucksvollen Texten zählen die Anekdoten, die Wokart aus seinem persönlichen Erfahrungsschatz schöpft. In diesen Momentaufnahmen geht es um Erlebnisse aus der Kindheit, vergangene Liebschaften oder etwa Begegnungen in der Hotelsauna. Was diese Szenen besonders macht, ist ihre Leichtigkeit und ihr lakonischer Witz, wie etwa in dieser Episode über einen Kaffeehausbesuch: «Als ich den dritten Malt-Whisky bestelle, fürchtend, dass mich die Bedienung im Nachtcafé für einen Säufer halten könnte, sagt sie, darauf komme es jetzt auch nicht mehr an».

Einen weiteren Schwerpunkt bilden Reflexionen zu Literatur, Kulturgeschichte und Religion. Der ausgebildete Philosoph macht keinen Hehl aus seiner Vorliebe für «Hochkultur» und zeigt eine beeindruckende Belesenheit. So werden nicht nur die griechischen Philosophen, Goethe und Lichtenberg zitiert, sondern auch weniger bekannte Autoren wie der Jesuit Joseph Kleutgen. Allerdings ist die Auseinandersetzung mit der Tradition nicht immer ergiebig. Zuweilen entsteht der Eindruck von Bildungshuberei – etwa dann, wenn der Autor es dabei bewenden lässt, seine Vorlieben und Abneigungen zu bekunden («Malwida von Meysenbug ist eine faszinierende Person, aber warm werde ich mit ihr nicht») oder etwas pedantisch Aphorismen von Marie von Ebner-Eschenbach nachbessert. Überraschend schwach fallen die religionskritischen Aphorismen aus. Hier kommt Wokart (der auch Theologie studierte) kaum über Plattitüden hinaus, wenn er Religionen pauschal als «Verschwörungstheorien» abtut, die Schriften der Kirchenväter als «Unsinn» bezeichnet oder festhält, dass Gottes Existenz «nicht besser verbürgt (ist) als die von Schneewittchen oder Dornröschen».

Damit ist zugleich ein allgemeines Problem dieser Notate-Sammlung angesprochen: Einige der Aufzeichnungen haben bloßen Behauptungscharakter, ohne beim Leser einen Denkprozess in Gang zu setzen. Wenn der Autor etwa festhält, dass Weltverbesserer «nicht alle Tassen im Schrank haben» oder Geisteswissenschaftler als «Schwätzer» bezeichnet, so kann man das als Leser nicht mehr als zur Kenntnis nehmen. Das gilt in gleichem Maße für die Notate, in denen sich der Autor damit begnügt, persönliche Neigungen zum Ausdruck zu bringen. Zweifellos ist es im Rahmen eines privaten Denktagebuchs legitim, festzuhalten, dass man in seinem Leben niemanden gehasst hat, sich ungern in «geistloser» Gesellschaft aufhält oder eine Aversion gegen Hausarbeiten hat – aber ist das auch publikationswürdig?

Die Frage stellt sich auch bei den zahlreichen Invektiven gegen zeitgenössische Entwicklungen wie Gendersprache, Veganismus oder Digitalisierung. Diese Passagen sind zweifellos die am wenigsten lesenswerten dieses Strandspaziergangs. Sätze wie «Ein Kulturgut war das Zigeunerschnitzel noch nie. Jetzt ist es aber auch noch rassistisch» dokumentieren weniger die «vielfältigen Facetten der Welt» als die reflexhafte Abwehrbewegung des Autors, so dass man als Leser zuweilen der Drang verspürt, die Promenade frühzeitig abzubrechen, um die nächstgelegene Strandbar aufzusuchen.

Gewöhnungsbedürftig ist die etwas altertümlich wirkende Sprache. Bei Wokart gibt es noch «sittenstrenge» Menschen, Frauen dürfen «Weiber» genannt werden und Prostitution ist «käufliche Liebe». Es mag mit einer zu großen Nähe zu Lichtenberg zusammenhängen, dass einige Aphorismen selber so klingen, als stammten sie aus dem 18. Jahrhundert. Kann man im 21. Jahrhundert wirklich noch Sätze schreiben wie diesen: «Er war überzeugt, dass die Indianer im südamerikanischen Urwald nur deswegen keine Hemden trugen, weil sie keine Bügeleisen kannten»?

So hinterlässt «Strandgut» insgesamt einen ambivalenten Gesamteindruck. Dennoch lohnt sich die Lektüre, denn mit etwas Geduld offenbaren sich auch manche glänzende Muscheln und schön geschliffene Steine, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen:

«Würden wir Schönheit auch bewundern, wenn sie vom Reiz der Vergänglichkeit verschont bliebe?»
«Das eigene Haus, die eigene Wohnung lassen die Wahrheit vergessen, die jedes Hotelzimmer vermittelt: dass man Gast ist.»
«Wie sehr man doch an dem hängt, was man vergebens gewollt hat!»

 

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