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Theodor Haecker über den Aphorismus.
Fundstück von Michael Wollmann (Oktober 2025)
In dem Prosa-Lesebuch „Wege des Geistes“ von Erwin de Haar (Verlag Moritz Diesterweg, EA 1954, 6. Auflage 1967), das seinerzeit auch in mehreren Bundesländern für den Gebrauch in Schulen genehmigt wurde, bin ich zufälligerweise auf einen interessanten Definitionsversuch von Theodor Haecker zum Thema „Aphorismus“ gestoßen.
Dass ein solcher Text in einem äußerst anspruchsvollen, aber auch facettenreichen Lesebuch aus den 1950er Jahren zu finden ist, das mit unterschiedlichsten Texten zu den Grundthemen Natur, Mensch, Geschichte, Gemeinschaft und Kunst aufwartet, hat seinen besonderen Grund: Es wartet nämlich mit Dutzenden „Aphorismen“ auf, die im ganzen Buch eingestreut wurden, aber eigens auch im Inhaltsverzeichnis mit Sternchen (*) bezeichnet sind, damit sie unter den Überschriften des Herausgebers leichter gefunden werden können. Besonders häufig fanden dabei „klassische“ Aphorismen von Goethe und Lichtenberg Verwendung, aber auch fast schon unbekannte Autoren wie Joseph Görres (1776-1848) sind mit „Aphorismen“ (1822-23) vertreten, die aus heutiger Perspektive aufgrund ihrer Länge wohl eher unter dem Label „Notate“ oder „Kurzessays“ firmieren würden.
In diesem – etwas weiter gefassten – Sinne fasste de Haar auch unsauber Auszüge aus Briefen von Mozart oder Jacob Burckhardt und anderen Quellen wie beispielsweise Droysens „Grundriß der Historik“ oder Hölderlins „Hyperion“ unter die „Aphorismen“. Eine Entschuldigung für diese Vorgehensweise fand er offenbar in Haeckers Bemerkung, dass „auch Maler, Bildhauer, Dichter, Chemiker, Historiker echte Aphorismen geschrieben“ hätten, wenn auch „als philosophische Geister“. Anbei also der vollständige Definitionsversuch Haeckers aus dem Jahr 1937, wie er auch in de Haars Lesebuch zum Schulgebrauch zu finden ist:
Der Aphorismus ist eine Gattung der Sprachkunst, unterworfen also wie jede Kunst einem Gesetz der Form, von dem sie sich frei macht allein durch dessen Erfüllung. Eine jede Kunst ist vollkommen erst, wenn sie in ihrem Formenreich der Gesetze zu spotten scheint, da sie die gnadenvolle Selbstverständlichkeit eines Lichtstrahls hat, des Vogelflugs, des fließenden Wassers, des Himmelsblaus, eines reinen Klanges. Aber jedes Mißlingen hat seinen Grund in der Verletzung oder Mißachtung eines Formgesetzes. Es gibt viele mißlungene Aphorismen, rein weil sie die kardinale Bedingung des Aphorismus nicht erfüllen. Nämlich, daß er immer auf Erkenntnis geht, und zwar auf philosophische Erkenntnis. Es gibt keinen lyrischen, epischen, wissenschaftlichen Aphorismus, es gibt nur einen philosophischen (es gibt auch keinen theologischen). „Über allen Wipfeln ist Ruh“ ist kein Aphorismus; es war einmal … ist auch keiner; auch: „Die Summe der Winkel in einem Dreieck ist gleich 2, Rechten“ ist keiner. Aber: „πάντα ῥεῖ. Alles fließt“: das ist einer, das ist sogar das Muster eines Aphorismus. Gibt es einen Satz, der „abgegrenzter“ wäre? Aber was ist abgegrenzt? Das All gegen das Nichts, was nur die Philosophie kann. Gewiß, es haben jeweils auch Maler, Bildhauer, Dichter, Chemiker, Historiker echte Aphorismen geschrieben, aber sie haben sie als philosophische Geister geschrieben. Die winzigste philosophische Erkenntnis ist berührt vom Hauche des Alls – so auch jeder Aphorismus, die philosophischeste Gattung der Sprachkunst, die „abgegrenzte“, die „abgetrennte“ – die erwählte! (Wege des Geistes, 3. Auflage, S. 249f.; Erstdruck in: Theodor Haecker. Der Geist des Menschen und die Wahrheit, 1937, S. 179).
Das ist freilich – bei allem Idealismus – eine äußerst enggefasste und streitbare Definition, die bestimmten Entwicklungen des Aphorismus in den vergangenen Jahrzehnten keinerlei Rechnung trägt und in heutiger Zeit wohl höchstens noch die ungeteilte Zustimmung von puristischen, dezidiert „philosophischen“ Aphoristikern finden würde. In jedem Fall ist sie aber anregend genug, um einmal mehr die Grundsatzfrage zu stellen, was den „Aphorismus“ aus heutiger Perspektive eigentlich ausmacht, bzw. ausmachen kann. Wissenschaftliche Definitionsversuche von Literaturwissenschaftlern wie Harald Fricke (1949-2012) oder Friedemann Spicker können hier sicherlich in einer Weise Abhilfe schaffen, um intersubjektiv vertretbare formale Grenzbestimmungen vornehmen zu können. Letztendlich bleibt die Frage nach dem Gattungsverständnis aber eine offene Frage, die für schreibende Autoren der Gattung sicherlich noch dringlicher als für die Leserschaft von Aphorismen in irgendeiner Weise zu beantworten ist.
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