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Friedemann Spicker zu:
Alexander Eilers: Kiesel. Aphorismen. Nebst diverser Freundesgaben.
Mit einem Vorwort versehen von Klaus Steintal.

Der Aphorismus: eine Altherrengattung? Dass das nicht zur Gänze stimmt, daran ist Alexander Eilers (geb. 1976) maßgebend beteiligt. Immerhin publizierte er seinen „Aberwitz“ schon 2005, also im aphoristisch zarten Alter von „unter 30“. Und er ist dem Aphorismus treu geblieben nicht nur als Autor, sondern auch als Anthologist, Herausgeber und Rezensent, treu auch in dem engeren Sinne einer besonderen Gattungstreue.

Ist es eine Art Verschämtheit angesichts so vieler Kalendertexte voll banaler Lebenshilfe, ist es die (verständliche) Suche nach einem Markterfolg, die auffällig viele Autoren heute zu Mischtexten führt, in denen Aphorismen nur eingelagert sind, so zu Tagebüchern (Frank Witzel: Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches Tagebuch, 2019), zu Notizbüchern (Hans Magnus Enzensberger: Fallobst. Nur ein Notizbuch, 2019), zu Notizen (Peter Sloterdijk: Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011-2013, 2018) und Aufzeichnungen (Thomas Stölzel: Zur Sprache gebracht. Aufzeichnungen, Notate und eine historische Phantasie, 2018; Norbert Wokart: Schattenträume. Aufzeichnungen 2017-2018, 2019), wenn sie denn nicht überhaupt auf Gattungshinweise verzichten (unterschiedlichste Beispiele: Martin Walser: Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung, 2018; Martin Seel: Nichtrechthabenwollen. Gedankenspiele, 2018; auch Volker Braun: Handstreiche, 2019, mit einem nicht-aphoristischen Mittelteil)?

Dass Eilers „gattungstreu“ geblieben ist, mag auch der Schule Ulrich Horstmanns geschuldet sein, der erst im verflossenen Jahr den gewichtigen Band „Das Gesamtwerk. Werke III. Gedichte und Aphorismen“ vorgelegt hat und dem vorliegenden Band unter Pseudonym ein metapherngesättigtes Vorwort mit auf den Weg gibt.

Für den schönen Titel bietet der Band gleich drei Assoziationsfelder von drei verschiedenen Autoren. Wenn Eilers selbst voransetzt „Aphorismen – Kiesel auf einem Reihengrab“ (13), hält er den Leser in der Ambivalenz zwischen dem Singulären und dem Nivellierenden, zwischen dem Stein, mit dem der Einzelne buchstäblich einen „Anteil“ nimmt zum Gedenken an diese(n) einzelnen Verstorbenen, und eben dem in keiner Weise herausgehobenen „Reihengrab“. In dem Motto „Zur Einstimmung“ aus dem Gedicht „Dover Beach“ (Matthew Arnold) erinnert „das Malmen der Kiesel“ in einem benachbarten Sinnfeld an „den ewigen Klang der Trauer“ (15). Mit dem versteckten Kommentar Michael Rumpfs „Kiesel bieten einen festen Untergrund, eignen sich jedoch nicht für Mauern.“ (60) dagegen sind wir wohl mit der Spannung zwischen einer (soliden?) Basis und einem (gewagten?) Gebäude im vertraut Aphoristischen.

Entscheidend ist hier unter anderem das Miteinander von Einfall und Gedanke. Die Kernfrage, die jeder Leser für sich im Einzelfall zu beantworten hat, lautet jeweils: nur Einfall oder auch Gedanke? Oft genug wird man da bei Eilers zufriedengestellt, ob er, ohne große Worte, große Worte („Zeichen“, „Sinn“) in Beziehung setzt („Wir feiern das Zeichen wie einen Sinn.“ (41), ob er mit minimalsten Abweichungen überraschend Neues erzeugt („Die Theorie in der Praxis überführen.“, 40) Dabei sind es weniger die Mittel, die überraschen, als die Art und Weise, wie sie der Autor auf einen neuen Gedanken hin anzuwenden versteht: die Umkehrung („Das Kostüm spielt die Rolle.“, 27; „Der Sphinx bleibt der Mensch ein Rätsel.“, 27); das Wortspiel („Manche halten Hochgestochenes für erhaben.“, 17) und die Sprichwortabwandlung („Bescheidenheit ziert sich.“, 34; „Mit Köpfchen durch die Wand.“, 36); die Definition („Geschichte: Kompass ohne Nadel.“, 26) und das Paradoxon, das es denkmöglich macht, zum Überbau zu erniedrigen (31).

Nicht verschwiegen sei, dass es – wie sollte es anders sein? – auch Leichtgewichte darunter gibt („Uns erleuchtet nur noch das Handy-Display.“, 37; „Eigentlich macht schon die Geburt alle gleich.“, 46). Man wird – natürlich – an Traditionen erinnert, an Lec („Seit Erfindung des Lots steht alles schief.“, 17), („Wie sicher ist noch das Amen in der Kirche?“, 25), im Einzelfall und zu nahe an Kraus („Jedes wahre Bild portätiert seinen Maler.“; Kraus: „An einem wahren Porträt muß man erkennen, welchen Maler es vorstellt.“) oder an Ebner-Eschenbach („Was wir könnten, können wir nicht.“; Ebner-Eschenbach: „Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.“). In jedem Fall bietet der Band aber anregend Weiterführendes genug, dass er den Ruf des Autors als eines der Bemerkenswerteren unter den gegenwärtigen Aphoristikern zu festigen vermag. Und wenn man weniger finden wird als die auf dem Rückumschlag versprochene „Bilanz zwischen erkalteten Verheißungen und verwunschenen Hoffnungen“, dann ist das der üblicherweise anpreiserischenTextsorte Klappentext geschuldet. Reicht es nicht auch schon, wenn man für das eigene Denken angeboten bekommt, was das Wesen der Zeit ist (20), woran man Lügen erkennt (21) und wohin eine Laufbahn führt (44)?

Nachtrag: Kurioserweise sind „Freundesgaben“ beigegeben. Sie machen den Band dann doch zu einer Mischung, nämlich von Eigenem und Fremdem. Da sie solcherart versteckt sind, hier für diejenige oder denjenigen, der gerade auch sie suchen möchte, die Namen: Tobias Grüterich, Franz Hodjak, Ulrich Horstmann, Vytautas Karalius, Hermann Rosenkranz, Michael Rumpf, Hans-Horst Skupy, Andreas Steffens, Elisabeth Turvold.

 

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