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Friedemann Spicker über:
Andrew Hui: A Theory of the Aphorism. From Confucius to Twitter. Princeton, New Jersey: Princeton University Press 2019.

 

Ein Buch über den Aphorismus, das im Internet als „landmark book of enormous originality and breathtaking scope, immensely learned und beautifully written“ (Kristine Haugen) vorgestellt wird, sollte auch im deutschen Sprachraum zumindest kurz angezeigt werden, was auch immer sich hinter der großsprecherischen Ankündigung auftun mag. Es tut sich zunächst eine Einleitung auf, die im Prinzip alles Wünschenswerte bietet: die „Theorie“, eine Definition, einen kurzen Überblick über die Gattung. Allein, Theorie wie Definition bleiben ärmlich. „Theorie“ versteht der Verfasser so: „The theory this book advances is that aphorisms are before, against, and after philosophy“ (2); „My theory proposes that much of the history of aphorisms can be narrated as an animadversion, a turning away from grand systems through the constructions of literary fragments“ (2). „Theorie“ verkürzt sich also darauf, dass der Aphorismus von dem Bezugspunkt eines philosophischen Systems aus als Vorgänger, Begleiter, Widerpart und Überwinder gesehen wird; eben das bringe diese „Theorie“ zum Vorschein. (Ganz am Schluss schränkt Hui freilich ein: „what I’m proposing is only a, not the, theory of the aphorism“, 22.) Seine Arbeitsdefinition ist entsprechend schlicht, allumfassend und unpräzise: „a short saying that requires interpretation“ (5). Ein Spruch, der Interpretation verlangt, ist in der Tat ein Fragment Heraklits so gut wie einer der „Tractatus“-Sätze Wittgensteins. Auf zwei Gesichtspunkte lässt sich also die Einleitung theoretisch-definitorisch reduzieren: auf die philosophische Antisystematik, auf die Rezeptionsbedürftigkeit. Auf dieser unzureichenden Grundlage entfaltet er die Abfolge der sechs Kapitel („What I am doing“, 18-21). Wer eine Reflexion über die fragmentarische Überlieferung antiker Texte, über den historischen Wandel von Begriff und Sache, über den romantischen Fragmentbegriff, den kritisch-satirischen Zweig der Gattung (Swift, Wilde und Shaw etwa kommen nicht vor) oder gar über spezielle Fagen wie die kotextuelle Isolation erwartete, um nur dies zu nennen, sieht sich enttäuscht.

Der Überblick reiht dementsprechend breit und unspezifisch kurz Gesagtes von den chinesischen, indischen, griechischen und biblischen Vorläufern über Guicciardini, Gracián, die französische Moralistik und einige Leuchttürme im 19. und 20. Jahrhundert, Schlegel, Schopenhauer, Nietzsche, Wittgenstein wie im Vorbeigehen, schließlich bis zu Cioran und Adorno in einem Satz. Die Schwerpunkte des Buches liegen denn auch in Randgebieten, bei Konfuzius (Kap. 1), Heraklit (Kap. 2), dem Thomas-Evangelium, einer frühchristlichen nicht-kanonischen Sprichwörtersammlung (Kap. 3), sowie bei Erasmus von Rotterdam und Francis Bacon. Ich streife auch Pascal („The fragments of infinity“) und Nietzsche („The fragments of the unfinished“) nur (kurze Zusammenfassungen der Kapitel in der instruktiven Rezension Stephen Kidds auf https://bmcr.brynmawr.edu/2019/2019.10.25/). Es heißt doch, die Vereinfachung zu weit treiben, wenn der Verfasser „finally the value of aphorisms for Nietzsche“ bestimmt: „For one simple but powerful reason: they are quick to read.“ (S. 174). Mit einem persönlich gehaltenen Epilog, der zum Zenbuddhismus führt (S. 177-189), endet das Buch.

Bei dem im Prinzip wünschenswerten „Bibliographical Essay“ (S. 213-221) möchte ich hingegen noch einen Moment verweilen, weil er das Ganze noch einmal in symptomatischer Weise beleuchtet. Einerseits ist er im Detail interessant vor allem wegen der englischsprachigen Titel, die referiert werden (so Morson: „The Long and Short of it: From Aphorism to Novel“), und damit geeignet, die deutschsprachige Perspektive stärker zu erweitern, andererseits: Was hilft der Essay, wenn primär und sekundär alles durcheinandergeht, wenn er Lichtenberg neben Krüger (mit seiner Dissertation von 1956, der sich Hui nahe fühlt) stellt? Wenn er von Hofmannsthal (nur den Chandos-Brief) und Kafka (da beschreibt er nur die Manuskripte in der Bodleian Library) kurz zu dem alten Klassiker, Jolles’ „Einfachen Formen“ (1930), sowie Anthologisten und Gattungshistorikern wie Gross (1983) und Geary (2005) springt, von sumerischen Sprichwörtern und islamischen Sammlungen zu Ruozzis Anthologie des italienischen Aphorismus, dann zu Joubert („deeply impressed“) samt seinem Interpreten Blanchot (S. 218f.) und Valéry, bis der Essay über Grant (2016) und diverse Twitterpublikationen in ein name dropping (Kraus, Lec usw.) ausläuft?

Eine „landmark“? Wer wollte einer solchen „landmark“ folgen? Sie führt nicht zu einer konzisen neuen Vorstellung von Theorie und Geschichte der Gattung, indessen führt sie den, der bereit ist, sie zu gehen, auf einzelne bisher kaum oder wenig begangene Nebenwege innerhalb der kurzen Weisheitssprüche.

 

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