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Friedemann Spicker über:
Elazar Benyoëtz: Himmelsstrich und Bodensatz. Wortzüge. Mit einem Nachwort von Conrad Wiedemann. Schaan, Wien, Bozen: Edition Eupalinos & Folio 2022.

 

Dieses Buch ist in der Druckgeschichte der Aphoristik fast beispiellos, vielleicht annähernd noch vergleichbar mit einem Werk Walther Rathenaus, der als reicher Großindustrieller seine „Reflexionen“ 1908 aufwendig und großformatig herstellen lässt (und entsprechend verlästert wird), oder mit Martin Kessels „aphoristischem Kompendium“ „Gegengabe“ (1960), das den Rahmen der in der Regel bescheiden daherkommenden schmalen Aphorismenbände ebenfalls bei weitem sprengt. 2300 Texte auf 645 Seiten, Dünndruckpapier, in bibliophiler Ausstattung, dazu eine Mappe mit 28 Miniaturen Metavels, seiner Ehefrau!

Der Band erscheint nicht in der seit 1990 gepflegten Collage-Form aus Aphorismus, Briefexzerpt, Zitat, autobiographischem Fragment und anderem, sondern ist in der äußeren Form durch die Mittelachse einheitlich gestaltet, mit kursiven Aphorismen als ‚Überschriften‘, jeder Text mit seinen Teilen pro Seite, die zwischen Strophe und eigenständigem Aphorismus oszillieren, hier und da als Zitat. Eine notwendig kurze Besprechung kann diesem Opus keinesfalls gerecht werden. Weil aber „hier so gut wie alle Themen des Gesamtwerks zusammenlaufen“ (637), wie Sprache, Glaube, Erinnerung, die schon mehrfach interpretatorisch entfaltet wurden: deshalb darf man sich auf wenige Aspekte beschränken (und sie mit einer Zitatmontage unterfüttern). „Das Ende sucht seinen Anfang“ (5), so beginnt das Buch, das Ganze kennzeichnend. Und es schließt mit einem Hippokrates-Zitat: „Er blieb, ohne zu schwinden“ (620).

Dementsprechend bietet es sich an, zum einen das Autobiographische, zum andern die Ambivalenz von Ende und Anfang, Vergangenem und Zukünftigem zu akzentuieren. Zum dritten ist das zwiespältige Verhältnis des Autors zum Aphorismus und der Person des Aphoristikers ein weiteres Mal im Zusammenhang seiner Sprache, von „Wort“ und „Satz“ und „EinSatz“ her exemplarisch herausheben, wie es nicht nur durch das Interesse des Rezensenten motiviert, sondern vor allem auch durch das Textganze selbst gerechtfertigt ist. Auf die vielen Aspekte der „Fortschreibung“ muss ich demgegenüber unter Verweis auf Früheres verzichten, so vor allem auf den zentralen religiösen Themenbereich von der Bibel, insbesondere dem Alten Testament (Paradies, Abraham, Salomo), bis zum Glauben („Glauben – Zweifel üben, / denkbar machen“, 226) und zur unablässigen Gottesreflexion und -meditation („Von Zweifel gepackt / und Gott ergeben“, 242). Auch Komplexe wie Antwort und Frage („Auf alles wissen wir Antwort, / die Antwort kennt nur die Frage“, 169) bleiben außen vor.

Es bleibt dabei: Die höchst wünschenswerte Autobiographie wird Benyoëtz nicht in einen zusammenhängenden längeren Text fassen; sie ist aus vielen Splittern zusammenzusetzen. In diesem Vermächtnis-Buch fügen sich weitere wichtige Mosaikteile in das Selbstbild ein. Sie beziehen sich einmal auf das rein Biographische im Rückblick des hohen Alters („Ich schaue mir die Tausende Bücher an, / die ich sammelte, / mit denen ich mein Leben zubrachte, / und nun, gerade noch lebend, / von ihnen Abschied nehmen muss“, 519, vgl. 46, 534), auf seine Kindheit und Jugend, die Mutter (565) und den Stiefvater (337, 559), sein „ Jerusalemdeutsch“ (287 u. ö.), die frühen Gefährten, dann auf das Werk und die – oft metaphorische – Selbstinterpretation dazu: „Ich schreibe für die Toten, / ohne ihre Ruhe zu stören, / nur dass sie es wüssten“ (239), auf die Gattung („Die deutsche Literatur / war nicht mein Ziel, / der Aphorismus / nicht meine Wahl“, 277) und seine Stellung in ihr („Zwischen Kafka und Kraus / Muss es einen Koppel geben“, 561). Seine Tagebücher sind ihm eine entscheidende Hilfe: „Auf meine Tagebücher weisend: / Das ist, was ein Mensch / in seinem halben Leben denken kann, / Um es in den letzten Jahren / noch korrigieren/ oder streichen zu können“ (458). An konkreten Verweisen auf das frühere Werk fehlt es dabei nicht; es ist eine beständige Neudeutung, von „Treffpunkt Scheideweg“ von 1990 (92f.) über die Morgenlesung zu Lichtenberg von 2009 (30) bis zu „Fazittert“ von 2021 (619). Im Zusammenhang damit reflektiert Benyoëtz immer wieder Jüdisches und Deutsches, ihr Miteinander bis zur grauenhaften Shoah (85, 132-135 u. ö.), aber auch den jüdischen Witz („Im jüdischen Witz halten sich / Exil und Paradies die Waage“, 58). Sein Verhältnis zu den Deutschen und zur deutschen Sprache wird immer wieder aufgerufen. Das sprachlich Integrative in sich sucht er vielfach, geradezu leitmotivisch, zu fassen:

„Ich werde nie wissen, / warum ich deutsch schreibe / schreibend aber weiß ich’s / Mein Hebräisch ging nicht ins Deutsche ein, / aber auf Deutsch in Erfüllung“ (150);
„Mein Deutsch ist, was Rosenzweig-Bubers / Verdeutschung der Bibel gewesen: / ein deutsches Unternehmen / im Geist und Sinn des Hebräischen. / Man muss im Deutschen / sein hebräisches Sprachzelt aufschlagen, / das geschieht am einfachsten in Jerusalem.“ (162, vgl. 259);
Für mein Judentum / schuf ich mein Deutsch / es gibt mich nun / mein Deutsch wird es aber / nicht mehr geben“ (259);
„Mit meiner Theologia Deutsch / diente ich dem Gotte Israels“ (458, vgl. 424 u. ö.).

Zweitens ist die Ambivalenz von Vergangenem und Zukünftigem zu akzentuieren; Joh 1, 1 („Im Anfang war das Wort“, 187-191 u. ö.) bildet dabei buchstäblich das ständig variierte Leitmotiv, von S. 5 bis S. 618: „Im Anfang war das Wort / sein Ende sind wir selbst“. In dem Text „Himmelsstrich und Bodensatz“ , der dem ganzen Buch ja den Titel gibt, heißt es: „Kann denn Vergangenheit / aufhören, / Zukunft zu sein“ (395). Ende und Anfang sind gewissermaßen ineinandergewebt:

„Den Anfang suchend, / denkt man sich sein Ende“ (32, 52);
„Man vermisst den Anfang / und nimmt sein Ende, / so beginnt’s“ (184);
„Nimm man sein Ende, / glaubt man / am Anfang zu stehen“ (189, vgl. 612)

Einerseits heißt es: „Vergänglichkeit wird aus der Zukunft erschlossen“ (301); auf der anderen Seite steht die feste Überzeugung: „Was übermorgen nicht wirkt, / Ist heute schon von gestern“ (237).

Schließlich – drittens – ist das Verhältnis zur Gattung des Aphorismus in Rückblick und Vermächtnis dessen, der sich ihr ein Leben lang widmet, herauszuheben. Ambivalenz ist auch hier die Grundstruktur. Es finden sich mehrfach Zeilen, die den Aphorismus, der „nicht meine Wahl“ (277) gewesen sei, apodiktisch abweisen: „Werdegang und Lebenslauf // Mein Werk, / wie es von mir gedacht, / ist ein Strich durch die Aphoristik“ (300); „Ich schreibe meine Bücher / Zeile um Zeile, / nicht Satz für Satz, / und bin schon darum / nicht Aphoristiker zu nennen“ (369). Andererseits heißt es abstandslos: „Meine Aphorismen – / Krümel vieler / in Tränen gegessener Jahre“ (596). Er zitiert – man darf vermuten: zustimmend – Joubert: „Gibt es einen Menschen, den der unselige Ehrgeiz quält, ein Buch auf einer Seite zu bieten, eine ganze Seite in einem Satz und diesen Satz in einem Wort – so bin ich es.” (8) Und er verortet sich, wie schon zitiert, zwischen Kafka und Kraus.[i] Der scheinbare Widerspruch löst sich auf: Es ist nur der pointenbewusste, sozialkritische Wortspiel-Aphorismus, wie er, auch im Gefolge seiner Antipoden Lec und Laub, weitgehend dominiert und damit den öffentlich wirkungsvolleren Hauptstrang der Gattung bildet, gegen den er sich so entschieden absetzt. Ein anderer Schluss scheint kaum möglich. Dafür spricht allein die Tatsache, dass hier jemand spricht, der auch nach 50 Jahren nicht aufhören kann, sein aphoristisches Schreiben zu reflektieren: „Ein Aphoristiker muss Stratege sein / Tragweite der Wörter berechnen, / sein Wortheer übersehen, / mit einer Andeutung / ferne Gedankengegenden ausmachen / und erreichen / ohne viele Worte mobilisiert zu haben. / Dann sind Aphorismen Winke – / oder Rauchfahnen“ (267). „Winke“, „Rauchfahnen“: Die Metaphern, die er für seine Aphorismen wählt, haben (ungeachtet des „Wortheeres“) nichts Verletzendes, Eindringlich-Gewaltsames, wie es gemeinhin von Florett und Scherbe bis zum Einzelkämpfer und zum Störsender begegnet, im Gegenteil: etwas Leichtes, ein Angebot. Sie entwickeln sich aus ‚strategisch‘ ‚berechneter‘ „Andeutung“ „ohne viele Worte“. Stattdessen spielt er mit Strenge und Enthaltsamkeit auf mystische Nähe an: „Der Aphorismus trägt an sich / das strengste Maß, / in sich den größten Spielraum“ (272); „Wortenthaltsamkeit / so müsste Aphoristik heißen“ (366); statt rhetorischem Prunk und ätzender Kritik „Wortuosität / Minimalaphoristik“ (288) und die Nähe zum Schweigen („Im Lob des Schweigens gipfelt die Rhetorik“, 12). In dem folgenden Vergleich ist er tatsächlich nahe bei Kafka und dessen bekanntem Wort von dem Buch als der Axt für das gefrorne Meer in uns: „Dem Aphoristiker ist das Wort / eine Axt / im Dschungel der Sprache“ (129).

Vieles in diesem Vermächtnis wäre noch darzustellen und zu untersuchen, so auf der thematischen Ebene die überraschend politischen und aktuellen Exkurse nicht nur zu Tiktok (607) und zum Krieg („Freiheit wird ausgekämpft / oder ausgehandelt / und dann volksweit zersungen“, 21), so formal das Dunkle, Orakelhafte, das Netz der Zitate von Kohelet und Epiktet bis Cioran und Fabri, das schier unerschöpfliche Paradies der Neologismen (nur drei auf die Literatur selbst bezügliche Exempel: „Wortschritte“, 325, „Stilstand“, 347, „Sinnflut“, 517), die ganze Ebene der Metaphorik („Erzählen, / das ist wie einen Spiegel stricken“, 10).

Aber hier muss es auch der Rezensent bei einer „Andeutung“ „ohne viele Worte“ belassen. Er kann sich nur der Einschätzung Conrad Wiedemanns im Nachwort anschließen, für den der Band, ob es sich nun um den Nachlass zu Lebzeiten, eine Summa oder einfach eine Fortschreibung handelt, „fraglos der wichtigste Text für die weitere Erforschung des in der deutschen Literatur einmaligen Phänomens EB“ (638) ist.

 

[i] Wobei Kafka für die Kenner zwar ein sowohl höchst bedeutender wie singulärer Autor auch von Aphorismen ist; sie spielen aber im allgemeinen Verständnis in seinem Werk eine untergeordnete Rolle. Außerdem ist die Traditionslinie, die sich im 20. Jahrhundert von seinem autonomen Bild-Aphorismus aus über Baermann Steiner, Eschmann, Aichinger, Kasper, Celan, Fringeli, Keller bis Canetti und Benyoëtz zieht, im literarischen Bewusstsein weniger präsent. Sie bewegt sich auch in relativer Nähe zur Lyrik: Benyoëtz kontrastiert nicht von ungefähr „Zeile“ und „Satz“.

 

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