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Friedemann Spicker über:
Elazar Benyoëtz: Feindeutig. Eine Lesung. Würzburg: Königshausen und Neumann 2018, 239 S.
Gottik. Eine Lesung. Würzburg: Königshausen und Neumann 2019, 330 S.;
Nadelind. Prosamen. Würzburg: Königshausen und Neumann 2019, 190 S.;
Der eingeschlagene Umweg. Würzburg: Königshausen und Neumann 2020, 360 S.

Elazar Benyoëtz ist uns vom Deutschen Aphorismus-Archiv vielfach verbunden; zuletzt haben wir unsere Skizze über „Deutschsprachige jüdische Aphoristik“ man eine seiner Lesungen anschließen dürfen: „Auch Kürze hat ihre Maßlosigkeit“ (Brockmeyer 2015). Er hat in den letzten vier Jahren in seinem neuen Verlag Königshausen und Neumann eine rege Publikationstätigkeit entwickelt, und es ist höchste Zeit, dass wir seine jüngsten Arbeiten an dieser Stelle zumindest anzeigen. Zum Teil schließen sie an die Reihe der „Lesungen“ an, wie sie Benyoëtz seit 2012 vermehrt publizierte („Sandkronen“, 2012; „Am Anfang steht das Ziel und legt die Wege frei“, 2015; „Das Feuer ist nicht das ganze Licht“, 2015; „Beteuert und gebilligt“, 2016; „Das Kommende ist nicht in Eile“, 2017; „Was sich ereignet, findet nicht statt“, 2017; „Zitat und Zeugenschaft“, 2017; „Allsamkeit“, 2018), zum Teil sind sie ohne diese Grundlage konzipiert. Formal sind sie alle so gehalten, wie es der Benyoëtz-Leser in den letzten Jahren gewohnt ist: eine Mischung aus Lyrik, Aphorismus, Zitat, zusammen mit der Variation älterer Texte um die Mittelachse angeordnet, thematisch vertraut um Biblisch-Jüdisches, um Glaube und Zweifel, um Erinnerung, Wort und Sprache kreisend und immer wieder auch den Aphorismus selbstreferenziell bedenkend und auf den Weg des eigenen Werkes zurückblickend. Wiederaufbereitetes steht neben Lyrisch-Verrätseltem und großartigen aphoristischen Einsichten, bedingungsloses Wortspiel neben bemerkenswerten Selbstaussagen in einer Fülle, die ich im Detail nur exemplarisch an dem Letzterschienenen, „Der eingeschlagene Umweg“, zeigen kann. Der Band ist Vermächtnis und Altersrückblick, ist Impuls zur Reflexion und biblische Betrachtung, aphoristische Selbstreferenz und Poetologie, er ist von Wortgläubigkeit und Meditation wie auch von weiterführender Variation und Intertextualität geprägt und scheut auch mit Stichworten wie Islam, Judentum und Antisemitismus nicht den aktuellen Bezug; auch hier muss ich mich auf wenige Aspekte beschränken. Ich greife den autobiografischen, den intertextuellen, den poetologischen und nicht zuletzt natürlich den aphoristischen Aspekt heraus.
Für die Autobiographie, die der Autor ja bisher in sehr vielen Bruchstücken, aber nicht in einer zusammenhängenden epischen Form geboten hat, bietet der neue Band, schon durch seinen Rahmen von „Sprachlaub, urwüchsig“ (S. 7-12) bis zum „Nachwort“ (S. 334) akzentuiert, wertvolles neues Material. Stellenweise nimmt er mit seinen „Altersgedanken“ (S. 55) fast Vermächtnis-Charakter an (z. B. „Nachruf, Nachlass, Nachwelt“, S. 320). Durch die Emigration seiner Eltern auf diesen „Umweg“ gebracht (S. 7), sieht Benyoëtz sein „Schriftwerk, / in seinem Immer-von-vorn begründet“ (S. 8). Er ist mit seinem „Jerusalemdeutsch“ (S. 12) „froh, unter deutscher Dichtatur / nicht leben zu müssen“ (S. 28) und behauptet zu Recht seine singuläre Stellung zwischen den beiden Sprachen. Unaufhörlich umspielt der „Trohubadohu“, der „Buchstabelist“, ein „Dennochide“ (S. 328f.), seine dichterische Existenz, um deren Kern zu begreifen und zu vermitteln,
Der Autor stellt früheste Texte in einen neuen Zusammenhang, indem er einen herausgreift, z. B. „Sinn hat nur das Zwecklose“ (S. 187) aus „Einsätze“ (1975, S. 10), indem er zwei übernimmt (S. 196 aus „Einsätze“, 1975, S. 13) oder nur einen aus der frühen Anordnung streicht (S. 206 aus „Einsätze“, 1975, S. 20) oder auch, indem der Aphorismus jetzt gewissermaßen als Überschrift oder Thema einer Seite nicht nur grafisch mehr Gewicht bekommt, z. B. „Die Vernunft reicht nicht aus, sie genügt aber“ (S. 91) aus „Einsprüche“ (1973, S. 11) oder „Gehörig – mit Schweigen bedacht“ (S. 83) aus „Vielleicht – Vielschwer“ (1981, S. 20).Was das für die relative Isolierbarkeit des Aphorismus und eine zweite Lesung im neuen Ko-Text zu bedeuten hat, das zu analysieren, wird im Einzelnen späteren Arbeiten vorbehalten sein, hier nur ein Beispiel: „Rom wie Jerusalem / sind nur noch / über Auschwitz zu erreichen“ (S. 165), der Aphorismus, der mehrfach in seinem Werk verwendet ist („Einsprüche“, 1973, S. 60; „Einsätze“, 1975, S. 40; „Das Mehr ist gespalten“, 2007, S. 90), wird in dem Zusammenhang einer Seite, die Wilhelm Michel mit Georg Grosz‘ „Christus mit der Gasmaske“ sowie die Apostelgeschichte 23, 11 zitiert, mit neuen Assoziationen angereichert. (Dort heißt es: „Wie du mich in Jerusalem bekannt hast, musst du mich auch in Rom bekennen.“; in der Übersetzung Luthers: „Denn wie du für mich Zeuge warst in Jerusalem, so mußt du auch in Rom Zeuge sein.“)
Der intertextuelle Aspekt bezieht sich natürlich in erster Linie auf fremde Texte. Mit der (variierenden) Wiederaufnahme eigener Texte kann der Autor ebenso ein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen wie mit seiner Zitattechnik. Die Bedeutung des Zitats in der Literatur Benyoëtz‘ muss nicht eigens betont werden. (Vgl. Friedemann Spicker: „Das gerichtete Wort“ oder „Briefeschreiben als Passion und Schule“. Epistolographie und Aphoristik bei Elazar Benyoëtz. In: Elazar Benyoëtz – Korrespondenzen. Hg. von Bernhard Fetz, Michael Hansel und Gerhard Langer. Wien 2014, S. 213-227, hier S. 219-221) Zitate gehören nach eigener Aussage zu den „Eckpfeilern“ seiner Poetik („Allerwegsdahin“, 2001, S. 179). Den zahlreichen Zeugnissen für die besondere Bedeutung, die er seinem Zitieren gibt, fügt er hinzu: „Zitat – Ein Satz im Auftrag“ und reflektiert unter dieser Überschrift diverse Aspekte, so das Große im Kleinen und das Zeugnis (S. 138). Zitate beanspruchen hier nun nicht weniger als ganze Seiten-Einheiten, von einer Überschrift perspektiviert. So folgt dem Aphorismus „Meine Gedanken sind nicht meiner Meinung“ nichts als ein Zitat aus den Briefen Alexander von Villers‘ (S. 74), so steht ein Zitat des Dichters Gustav Schüler (1868-1938) ganz für sich auf einer Seite (S. 183). Schon diese beiden Namen beweisen, dass der Autor mit seinen Zitat-Zeugen höchst eigene Wege geht. Da sind Entdeckungen möglich (wenn man sich denn seine Kritik bewahrt). Richard von Schaukal (S. 269, 289, 293) etwa gehört gewiss nicht in die erste Reihe der deutschsprachigen Aphoristiker des 20. Jahrhunderts.
Für seine Poetologie, die wie stets in vielen Ansätzen Wort, Satz und Sprache, Sprechen und Schweigen reflektiert, kann ich in dem Rahmen einer kurzen Rezension nur auf den Johannes-Bezug („Im Anfang war das Wort“, Joh 1, 1-4) verweisen, der hier besonders deutlich wird und sich durch das ganze Buch zieht (S. 6-67, 82, 152, 158, 238, 274, 304).
Der aphoristische Aspekt sollte dagegen in unserem Rahmen zum Schluss betont werden. Auch mit ihm schließt der Autor an seine regelmäßigen selbstreferenziellen Texte seit den 70er Jahren an. ,Klassiker? der diesbezüglichen Benyoëtz-Interpetation wie „Der Aphorismus nimmt den Widerspruch vorweg, der Spruch setzt ihn voraus.“ (S. 81) etwa konnte man schon 1973 und 2000 lesen. Wieder sind das Verhältnis von „Sprachkürze und Denkweite“ (Jena Paul) („Der Aphorismus / weist den längsten Weg / und bahnt ihn mit wenigen Silben“, 86), die Ambivalenz der Genauigkeit („Alle Täuschung / beruht auf Genauigkeit“, S. 19) sowie das fraglich Apodiktische einerseits („Der Aphorismus hat alle Argumente für sich / und führt keinen einzigen an“, S. 287; „Thesen sind das Militär der Aphoristik“, S. 277) und das fraglos gefährliche Ungefähre andererseits („Am Vielleicht / verkommt die Aphoristik“, S. 259) die Aspekte, die ihn dabei unaufhörlich umtreiben: „Ein Aphorismus kann nicht / auf Biegen und Brechen stimmen, / er muss biegen und brechen“ (S. 27f.)
Dreierlei, zwei davon in schärfstem Widerspruchsverhältnis zueinander, wird künftige Interpretation dabei immer zusammenzudenken haben, Judentum, Poesie, Moralistik; in seinen eigenen Worten: „Mein Denken kommt aus der Synagoge“ (S. 56); „Es gibt kein Denken jenseits von Singen und Sagen“ (S. 51); „Das scharfe, argumentlose Denken heißt Moralistik“ (S. 51).

 

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