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Michael Wollmann über:
Elisabeth Turvold: Wiedergänger. Ausgewählte Aphorismen aus zweieinhalb Jahrzehnten. Würzburg: Königshausen & Neumann 2024.

 

Die Historikerin Elisabeth Turvold (*1963 in Sarpsborg/Norwegen) präsentiert uns dieser Tage unter dem sinnig gewählten Titel „Wiedergänger“ eine kleine, 93seitige Zusammenstellung ihrer Aphorismen aus zweieinhalb Jahrzehnten. Der Anspruch der Autorin besteht dabei laut Klappentext darin, „den Aphorismus von den Zumutungen der Knopfdruck- und Instantliteratur“ zu befreien. Kein kurzlebiges ‚Feuerwerk‘ soll abgebrannt und das Pulver nicht in ‚Geistesblitzen‘ verschossen werden, sondern die Autorin verspricht, in einer „eigensinnige[n] Wiedergängerei“ das „Unterbelichtete[] im Themen- und Schemenreigen“ wieder zur Geltung zu bringen. Turvold wendet sich also dezidiert von der eher unverbindlichen Gedankensplitter- und Wortspielaphoristik ab, um sich stattdessen einer eher lyrisch verstandenen Aphoristik zuwenden zu können, die eine gewisse bleibende Nachwirkung auf den Leser haben soll. Die Überschriften wurden trotz gewisser Bedenken (vorangestelltes Motto: „Jeder Aphorismus ist ein Kapitel für sich.“) in acht Kapitel eingeteilt, die unter beseelt anmutenden Bezeichnungen (s. Unten) bereits eine Vorahnung davon geben, dass uns auf den nachfolgenden Seiten eher lyrisch zu verstehende Aphorismen begegnen werden.

Das 1. Kapitel „Aus heiterem Himmel“ wartet dabei zunächst mit eher allgemeinen existenziell-philosophischen Aphorismen auf. Hier ist vor allem der Einfluss des „aphoristischen Impulsgebers“ (S. 93) Ulrich Horstmann spürbar:
„Das Geschenk des Lebens kommt frei Haus, plärrend.“ (S. 11) wäre sicher auch in einer aphoristischen Veröffentlichung von Horstmann ein denkbar passender Einstieg.

Was in diesem 1. Kapitel bereits positiv auffällt und auch in den späteren Kapiteln immer wieder durchscheinen wird, ist Turvolds Talent für eine außergewöhnliche, oftmals metaphernreiche Bildhaftigkeit, die im konkreten Einzelfall manchmal nur schwer zu entschlüsseln ist: „Der Morgen ist wie eine Nuss. Man muss sie knacken, um an den Tag heranzukommen.“ (S. 11) / „Mit dem Geduldsfaden durchwirkte ich den Zauberberg. Als ich ihn wieder herauszog, war aus ihm ein Perlenkettchen geworden.“ (S. 12) / „Wir sind die Stecknadeln auf der Landkarte, die die Kraniche mit ihren Flügeln aufgeschlagen haben.“ (S. 13) Diese teilweise überbordende Bildhaftigkeit – die manchmal zusätzlich noch auf anspruchsvolle literarische Werke (Th. Mann, Schiller, Grass) direkt verweist – hat zuweilen etwas Überambitioniertes, wodurch sie im Einzelfall etwas obskur und dick aufgetragen wirkt („Schöpferisch sein: das Glück eines Rotzbuben, der einem Elefanten die Fußnägel raspeln darf.“ [S. 11]) Andererseits verträgt sie sich vor allem dann besonders gut mit dem selbstgewählten Anspruch, wenn sich mit ihr eine gewisse Lebenserfahrung oder sozial- und gesellschaftskritische Untertöne zu vereinen scheinen, die die Autorin oftmals hintersinnig in ihren Aphorismen darzulegen weiß: „Kinder lachen einfach, Erwachsene lachen Tränen.“ (S. 14) / „Armut spielt Verstecken. Aber niemand geht sie suchen.“ (S. 40) / „Feinstaub: Make-up der Straße; etwas weniger täte es auch.“ (S. 40)

Im 2. Kapitel „Alltagserscheinungen“ begegnen uns in aphoristischer Form scheinbar alltägliche Beobachtungen der Autorin: „Ich schöpfe aus Beiläufigkeiten. Die großen Themen sind Sache der Groschenromane.“ (S. 19) Neben äußerst gelungenen Aphorismen wie „Es ist nicht jedermanns Ding, Mensch zu sein.“ (S. 19) lassen sich hier einige eher mäßig pointenreiche Aphorismen ausmachen, die zumindest teilweise auch dem Sujet geschuldet sind: „Faustischer Erkenntnisdrang. Ein Fäustling wäre mir im Augenblick lieber.“ (S. 19) / „Brotkrumen sind out. Hänsel und Gretel würden sich heute mit Navi verlaufen.“ (S. 21) / „Alltagseinerlei, so unverhohlen banal wie ein mit Stickern beklebter Spind, in dem Arbeitshandschuhe, Vesperpaket und Caramba-Spray ebenso wahllos durcheinandergeworfen sind wie Fix-und-Foxi-Hefte und Softpornos.“ (S. 26). Interessant sind in diesem Kapitel innovative Elemente wie die folgende aphorismennahe Kürzestgeschichte: „Auf Gleis 9 der ICE nach München, auf Gleis 11 die Dampfsonderfahrt nach Erbach und in der Mitte meine Bummelbahn nach Mannheim. Abfahrt. Rasch lassen wir die Nostalgiewagen hinter uns, rasch bleiben wir selbst zurück. Ein Zeitalter rauscht dem andern davon, und mir gleitet die Zugluft kalt über den Rücken.“ (S. 20) Eine aphoristische Pointe lässt sich in diesem fast schon kafkaesk wirkenden Text freilich nicht ausmachen und dennoch beleuchtet die Autorin ihrem eigenen Anspruch gemäß ein unterbelichtetes Phänomen.

Im 3. Kapitel „Gesellschaftskritische Geister“ lassen sich gleichfalls einige sehr gelungene gesellschaftskritische Aphorismen finden. Bezugnehmend auf den „Mantel der Geschichte“, von dem Bismarck gesagt haben soll, dass man ihn am Zipfel ergreifen muss, wenn er vorüberwehe, vermerkt Turvold beispielsweise: „Der Mantel der Geschichte wärmt nicht, er ist voller Kaltblütigkeit.“ (S. 34) Auch das soziale Gewissen der Autorin meldet sich das eine oder andere Mal nahezu unverblümt zu Wort: „Einzelne üben sich als soziale Vordenker, derweil das Kollektiv seinen Egoismen frönt.“ (S. 34) / „Auch das Individuum ist von Inflation bedroht, muss es doch tagein tagaus erfahren, dass es keine reale Deckung für seinen Wert gibt.“ (S. 43) Bedeutungsoffen und nachdenklich zeigt sich der Aphorismus „Die Aktivisten von heute denken nur an morgen.“ (S. 37), aus dem sich sowohl Kritik an einer möglichen scheuklappenartigen Einseitigkeit der zukunftsorientierten Aktivisten, als auch ein lakonisch bekundetes Wohlwollen der Autorin herauslesen ließe.

Das kurze 4. Kapitel „Mondscheingespinste“ enthält einige Aphorismen, die lyrisch auf den Mond bzw. dessen unterschiedliche Erscheinungsweisen Bezug nehmen und allesamt ein Ausdruck der Faszination sind, die der Mond auf die Autorin offensichtlich ausübt: „Vollmond legt die Schminke ab: Ein Wolkenwattebausch fährt über das fettige Mondgesicht.“ (S. 47) / „Die eine Hälfte geschminkt, die andere bedeckt – so geht der Halbmond nächtens aus.“ (S. 48) / „Sichel: der Mond in einer Phase der Magersucht.“ (S. 48)

In ähnlicher Weise, aber nicht ganz so dezidiert enthält das 5. Kapitel „Lichtgestalten“ Aphorismen, die alle in irgendeiner Weise auf das Thema „Licht“ bzw. (Selbst-)Erkenntnis Bezug nehmen: „Ein klarer Gedanke durchschaut sich selbst.“ (S. 53) / „Ein Star, will heißen: himmlischer Körper, der angestrahlt wird.“ (S. 53)

Das 6. Kapitel „Wiederworte“ enthält – offenbar in der Tradition von Ambrose Bierces „Wörterbuch des Teufels“ – einige äußerst originelle Definitionen zu bestimmten Begriffen, die teilweise ein eindrucksvoller Beleg für das satirische Gespür Turvolds sind, das ansonsten hinter dem Lyrisch-Bildhaften immer etwas zurücksteht: „schwatzen: reden wie ein Buch, das niemand lesen will.“ (S. 60) / „abrüsten: wettrosten“ (S. 62) / „Militarist: jemand, der Panzer mit Samthandschuhen anfasst.“ (S. 62) Ihr besonderer Bezug zur Metapher wird einmal mehr deutlich, wenn sie diese als „maßgeschneidertes Kleid für ein Wort“ (S. 64) bezeichnet und auch ihre fast schon sinnlich wirkende Sprachliebe kommt in diesem Kapitel einmal mehr zum Ausdruck: „Vorzunglich (M. Buber). Man möchte das Wort ablecken.“ (S. 63).

Im 7. Kapitel „Naturerscheinungen“ erweist sich die Autorin einmal mehr als aufmerksame Beobachterin der Natur („Sie bräunen sich, während die Natur sich grün und blau sonnt.“ [S. 72]) und bestimmter Naturerscheinungen: „Sengende Hitze, fiebernde Natur. Dann prasseln Eissteine vom Himmel, legen sich wie ein kühlendes Tuch über die Landschaft: Hagelkörner als Wadenwickel der Erde.“ (S. 71). Der menschliche Umgang mit der Natur führt die Autorin gelegentlich auch zu existenzielleren Fragen: „Die Felder werden jedes Jahr umgepflügt – und wir sollen immerzu Sprossen treiben?“ (S. 73) Hier begegnen uns einige Aphorismen, die einen Bezug zur Natur haben und zum Beispiel auf die unterschiedlichen Jahreszeiten und Monate eingehen. Während der Mai uns den „Wohlstandsspeck der Natur“ (S. 69) anzeigt, zeigt sich der Winter in Turvolds Augen als „Verhaltensgestörter“. (S. 69)

Das abschließende 8. Kapitel „Seelenwanderung“ enthält schließlich weitere Kurztexte, die Fragen wie die nach Leben und Tod, aber auch Liebe und Emotionen berühren. Dass dieses Kapitel insgesamt aber etwas stärker autobiographisch geprägt ist als die vorangegangenen, zeigt sich in Aphorismen wie den folgenden: „Ich suche nicht, ich versuche.“ (S. 77; vorangestellt) / „Nach vierzig Jahren treffe ich Schulfreunde wieder. Sie haben sich entwickelt, ich habe mich entwickelt. Wir haben uns in der ganzen Zeit nicht auseinander-, sondern zusammengelebt.“ (S. 84) / „Nachtschicht. Traurigkeit greift wie ein Zahnrad in die Mechanik der Zeit und bewegt Stunde für Stunde. Die Schicht verläuft störungsfrei. Morgens schlafe ich ein.“ (S. 86). Einmal mehr zeigt sich in diesem Kapitel also ein erzählerisches Element, das ansonsten für den Aphorismus eher ungewöhnlich ist, aber von Turvold ganz bewusst eingesetzt wird. Auch hier lassen sich wie zuvor Aphorismen finden, die genauso gut auch in anderen Kapiteln hätten auftauchen können, wie „Technophobie ist die Krankheit der Gesundgebliebenen.“ (S. 83) oder „November. Der Dichtergeist kehrt seine Blätter zusammen.“ (S. 89)

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die langjährige und versierte Aphoristikerin Elisabeth Turvold uns mit ihren „Wiedergängern“ einen kleinen, qualitativ hochwertigen und teilweise äußerst experimentellen Auswahlband vorgelegt hat. In der Tat hat sie hiermit erfolgreich ihr Versprechen eingelöst, eben keine Knopfdruck- und Instantliteratur abzuliefern. Das macht die Lektüre andererseits aber auch voraussetzungsreich und schwierig für Leser ohne große Lektüreerfahrung, was Lyrik, Aphorismen und klassisch-moderne Literatur angeht. Es bleibt zu hoffen, dass die „Wiedergänger“ trotzdem ihre Liebhaber finden werden, auch wenn sie möglicherweise mehrere Anläufe bei der Leserschaft brauchen.

 

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