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Heimito Nollé über:
Giuseppe Corbino: Einsatzfliegen. Hannover: der blaue reiter 2023.

 

Giuseppe Corbino (Jahrgang 1976) hat Philosophie und Theologie studiert und arbeitet heute als Lehrer und Erwachsenenbildner. Erste Aphorismen hat der in Italien geborene und in der Schweiz aufgewachsene Autor in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Mit den „Einsatzfliegen“ legt Corbino nun seine erste eigenständige Aphorismensammlung vor. Das Wortspiel im Titel ist in zweierlei Hinsicht originell: Zum einen weckt es die Assoziation der lästigen Stubenfliegen, die uns in dieser Jahreszeit wieder zu quälen beginnen; zum andern schwingt darin die Selbstironie des Aphoristikers mit, der sich bewusst ist, dass seine Texte im aktuellen Literaturbetrieb bestenfalls eine kurze Lebensdauer haben – wenn nicht gar Totgeburten sind.

Seiner gut 300 Texte umfassenden Sammlung stellt Corbino einen Satz des französischen Schriftstellers und Diaristen Jules Renard voran. Der Aufforderung zur Kürze („Unbedingt auf lange Sätze verzichten, die man eher erahnt, als dass man sie liest“) kommt Corbino allerdings weitaus konsequenter nach als Renard selbst. Die „Einsatzfliegen“ enthalten durchgehend Kurz- und Kürzestaphorismen bis hin zum Ein-Wort-Aphorismus. Die unter Aphoristikern gängige und zuweilen etwas eitle Kritik der Beredsamkeit findet sich auch bei Corbino: So hält er in einem Aphorismus mit dem Titel „Wortkarg“ fest: „Denn Worte kommen schneller, / als sie gehen“ , und an anderer Stelle heisst es: „Aphorismen sparen / nur mit Worten.“

Dieses Versprechen löst Corbino in seinem Erstling durchaus ein. Seine Aphorismen sind „weit mehr als nur Sprach- und Wortwitz“, wie es im Klappentext heißt. Auch wenn das Wortspielerische nicht zu kurz kommt, überzeugt das Buch vor allem durch die Fülle von philosophischen und zeitkritischen Gedanken. Als Philosoph und Theologe bewegt sich Corbino dabei nicht im luftleeren Raum (an zeitlosen Weisheiten ist er glücklicherweise nicht interessiert); vielmehr bleiben seine Aphorismen im Konkreten verwurzelt, indem sie unsere Gegenwart kritisch durchleuchten.

So geht es in keinem geringen Teil der Aphorismen um die Auswirkungen der modernen Lebenswelten auf unser Denken und Fühlen. Mehrere Texte befassen sich mit den Folgen unseres entfesselten Wirtschaftssystems, das nicht nur globale Ungleichheiten hervorbringt („Je globaler das Problem, desto lokaler die Unschuld“), sondern immer mehr individuelle Freiräume besetzt („Wer nach mehr Freizeit verlangt, / kann nicht von der Arbeit lassen“). Daneben kommen aktuelle Krisen wie der Klimawandel („Irgendwann wird der Herbst / die Folge von Dürren sein“), Corona („Schweigen ist der / beste Mundschutz“) oder der Krieg („Mit dem ersten Toten wird zugleich / jeder Sieg zu Grabe getragen“) zur Sprache. Einen weiteren Schwerpunkt setzen Aphorismen zur Theologie und Religion („Moderner Polytheismus / Jeder hat seinen eigenen Gott, / der ihm nicht widerspricht“).

Zu den Stärken dieser Aphorismen gehört es, neue Perspektiven auf vermeintlich Feststehendes und Offenkundiges zu öffnen. Wer sich als uneingeschränkten Tierfreund ansieht, dürfte beim Aphorismus „Das Insekt beginnt, / Wo die Tierliebe endet“ ins Grübeln geraten. Auch der Satz „Ungerecht verteilter Reichtum / weckt den Neid unter den Reichen“ durchbricht mit seiner überraschenden Pointe die Erwartung, dass Reichtum vor allem den Neid der Minderbegüterten weckt. Selbst einen negativ besetzten Begriff wie das Vorurteil vermag Corbino (möglicherweise angeregt durch die Lektüre von Hans-Georg Gadamer) im Aphorismus „Vorurteile bringen uns / auf sicherem Abstand näher“ in ein neues Licht zu rücken. Daneben gelingen ihm auch immer wieder verblüffende Vergleiche und Sprachbilder. Dass Unentschlossenheit „eine Form von Ewigkeitsglaube“ sein kann, ist eine feine Beobachtung. Ebenso überzeugt die Metapher, die Corbino heranzieht, um den Gedächtnisverlust bei Demenz zu beschreiben („Demenz / Als Lethe über / die Ufer trat“). Positiv hervorzuheben ist, dass Corbino weder moralisiert noch zu polemischen Rundumschlägen ansetzt. Seine Stärke ist die subtile Beobachtung. Gleichwohl haben seine Aphorismen durchaus Biss, wie etwa folgendes Beispiel mit Blick auf die Unterhaltungsindustrie zeigt: „Man muss lediglich die richtige Nische / finden, um das Talent zu ersetzen“.

Obwohl sich die „Einsatzfliegen“ durch ihre gleichmäßige Qualität auszeichnen, gibt es einzelne fluguntaugliche Exemplare. Erfreulicherweise selten sind abgenutzte Wortspiele wie im Aphorismus „Hintergedanken stehen / öfters im Vordergrund“. Einige Texte überzeugen sprachlich nicht ganz: Gegen den Aphorismus „Work-Life-Balance / Wenn Überstunden zu einer / Charaktereigenschaft werden“ wäre einzuwenden, dass Überstunden keine Eigenschaft sein können. Eher ungelenk wirken Sätze wie „Schlagzeilen sind zu kurz / für zwischen den Zeilen“ oder „Unbelehrbar/Von Mahn zu Mal/geht es weiter“. Von unterschiedlicher Qualität sind die Ein-Wort-Aphorismen. Zumindest dem Rezensenten hat es sich nicht erschlossen, was mit „Angstler“ oder „Mittelmehr“ gemeint sein könnte. Ein Fragezeichen könnte man schließlich hinter jene Aphorismen setzen, die nur im zeitgeschichtlichen Kontext verständlich sind. So ist die Ironie in der Definition von Meinungsfreiheit („Wenn Meinungen frei / von Tatsachen sind“) oder die Pointe in „Die Sparwut bringt die / anderen zum Kochen“ in einigen Jahren vielleicht schon nicht mehr erkennbar.

Alles in allem bieten Corbinos „Einsatzfliegen“ aber eine überaus anregende und gedankenreiche Lektüre. Von dieser Art von Störenfrieden lassen wir uns gerne auch in Zukunft belästigen.

 

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