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Alexander Eilers über:
Giuseppe Corbino: Hintergrundlauschen. Hannover: der blaue reiter 2024.

 

„Wer Ohren hat, der lausche“ – Neues von Giuseppe Corbino

Von der Natur mit hochsensiblen Sinnesorganen ausgestattet, wünscht sich der Mensch Freiheit von Störquellen, insbesondere in der Akustik, wird doch ein Rauschen im Ohr – sei es ein höhenlastiges Zischen, sei es eine Schwingungsüberlagerung durch niedrigfrequente Töne – als überaus lästig empfunden. Hinzu kommt, dass die analoge Audiotechnik seit Längerem große Anstrengungen unternimmt, Umgebungsgeräusche, die sich negativ auf die Klarheit der Tonspur auswirken, zu unterdrücken. Zum unerwünschten, durch neuere digitale Verfahren fast vollständig neutralisierten Hintergrundrauschen zählen Verkehrslärm, das Surren von Klimaanlagen oder Stimmengewirr.

Wenn nun aber der Schweizer Aphoristiker Giuseppe Corbino, Jahrgang 1976, seinen kürzlich publizierten Band paradoxerweise Hintergrundlauschen tauft und im Klappentext verspricht, sich nicht an das „Vordergründige“ zu halten, sondern in die „Tiefendimensionen unseres Daseins“ vorzudringen, muss er mehr als nur die Verblüffung des Lesers im Sinn haben. So steht nämlich der wortspielerische Titel wie bei seinem ebenfalls im Philosophie-Verlag der blaue reiter erschienenen Erstling Einsatzfliegen (2023) in engster Verbindung mit der Gestaltung des Covers. Es zeigt mehrere streng angeordnete Reihen einzelner Achtelnoten, die an einer Stelle im rechten unteren Bildbereich durch einen Dreierverbund der Zeichen aufgelockert werden, was unvermittelt an musikalische Kompositionen denken lässt. Schon ein flüchtiger Blick in die 93 Seiten starke Zusammenstellung bestätigt diese Vermutung. Nicht nur, dass sie die auf Instrumentalwerke verweisenden Kapitel „Vorspiel“ und „Nachspiel“ beinhaltet; vielmehr sind auch die anderen Abschnittsüberschriften sowie die insgesamt 287 aufgenommenen Textbeiträge mit Notensymbolen verziert bzw. voneinander abgesetzt. Berücksichtigt man dann noch die programmatische Aussage „Die Welt ist mehr, als sie uns auf den ersten Blick erscheint“ (Klappentext), ergeben sich zusätzliche Assoziationen – einerseits zum erlebnistranszendenten Wärmerauschen, das nach der modernen Physik aus dem heruntergekühlten Strahlungsfeld des Urknalls stammt, andererseits zu der antiken, vor allem von den Pythagoreern verbreiteten Vorstellung der Sphärenharmonie. Letztere besagt, dass bei den Bewegungen der Himmelskörper auf ihren Kreisbahnen Töne entstehen, deren mit bloßem Ohr nicht hörbarer Zusammenklang die mathematischen Proportionen des wohlgeordneten Kosmos wiedergibt.

Inwieweit der studierte Philosoph und Theologe Corbino all diesen Gesichtspunkten gerecht wird, ist gleichwohl die Frage. Zwar reißen einige seiner zwei-, maximal dreizeiligen Aphorismen, die entweder in definitorischer Manier mit einem kursivierten Stichwort beginnen oder als linearer Prosasatz in linksbündiger lyrischer Setzung konzipiert sind, epistemologische Probleme an – „Wir wissen genug, um / nicht verstehen zu müssen“ (S. 30) –, doch gehen sie weniger auf die Fallstricke der Erkenntnis als auf alltägliche „Zumutungen der Welt und unseres menschlichen Daseins“ (Klappentext) ein: „Der Teller wird zum Napf, / wenn man nicht mehr über / den Rand sieht“ (S. 19). Solchermaßen geerdet, kommen sie, sehr zum Leidwesen der im Buchtitel aufgerufenen kosmologischen Bezüge, nur selten auf die Entstehung aller Dinge zu sprechen. So findet allein die jüdisch-christliche creatio ex nihilo Beachtung – „Mit weniger als nichts hätte selbst / Gott nichts anzufangen gewusst“ (S. 61) –, wobei der als Religionspädagoge ausgebildete Urheber das Kompositum ‚Glaubenszweifel‘ beim Wort nimmt. Denn wenn er darauf hinweist, dass erst die Skepsis der Frömmigkeit „Konturen“ (S. 30) verleiht, macht er auf die Dialektik der beiden Geisteshaltungen aufmerksam. Darüber hinaus knüpfen manche seiner Bekenntnisse aus dem Kapitel „Selbstmitteilungen“ an die Religionskritik von Ludwig Feuerbach (1804–1872) an, der zufolge der Schöpfer nichts anderes als eine Projektion des menschlichen Vollkommenheitswunsches darstellt: „Gott entstand, als man / von einem alles erwartete“ (S. 29). Doch wird anderenorts zugleich die hieraus erwachsende Forderung laut, dass der unheilvolle Zwiespalt zwischen Diesseits und Jenseits aufzuheben sei, damit man sich mit ganzer Kraft der Existenzbewältigung widmen könne. Dabei thematisiert Corbino mal das malum metaphysicum – „Wir stoßen an Grenzen. / Die Dellen nennen wir / Transzendenz“ (S. 52) –, mal die inneren Widersprüche tradierter Immortalitätsauffassungen: „Eine unsterbliche Seele macht / jeden Gott überflüssig“ (S. 87). Kein Wunder also, dass der in Luzern ansässige Autor, dessen „Glaube“ schon so „manchen Gott ausgestanden“ (S. 35) habe, den Fokus auf das Hier und Jetzt richtet, weshalb sogar seine Vorbehalte gegenüber aufklärungsoptimistischen Utopien, die sich einer langjährigen, in wissenschaftlichen Aufsätzen dokumentierten Auseinandersetzung mit Arthur Schopenhauer (1788–1860) verdanken, einen ebenso erd- wie gegenwartsgebundenen Charakter annehmen: „Heile Welten sind / außerirdisch“ (S. 80).

Umso folgerichtiger erscheint es daher, die vorliegenden Reflexionsscherben mit der Infragestellung zeitgenössischer Sitten zu betrauen. Wenn aber die Leitsätze zeigen sollen, „was hinter der Fassade gesellschaftlicher Konvention und gesundem Menschenverstand steht“ (Klappentext), bleibt unklar, was Einwände gegen das Konkurrenzdenken – „Man glaubt wieder an den Sieg, / kurz bevor man überrundet wird“ (S. 20) –, die gesunkene Leistungsbereitschaft der jüngeren Generation – „Die Geschäftigkeit / spielt mit der Arbeit“ (S. 20) –, den wiedererstarkten Bellizismus – „Waffen sticheln / den Frieden“ (S. 10) – oder gegen ethisch verbrämte Ernährungstrends – „Vegane Wurst / Pflanzen enden wie Tiere“ (S. 16) – mit den auf dem Einband abgebildeten Musiknoten zu tun haben. Überhaupt findet sich in der Sammlung nicht ein Textbeispiel, das auf Tonschöpfungen, geschweige denn auf die Harmonielehre einginge. Obwohl einmal ein „Blick hinter die Kulissen“ (S. 36) gewährt wird und ferner der Hinweis erfolgt, dass es sich „[m]it offenem Mund / […] am besten [hört]“ (S. 67), sucht man in Hintergrundlauschen vergebens nach titelbezogenen Gedankensplittern.

Eine derartige thematische Beliebigkeit, die im Vorläuferband Einsatzfliegen nirgends zu bemängeln war, prägt zudem die einzelnen Abschnitte. Warum nämlich das zweite Kapitel „Beziehungsweise“ heißt, wo es sich doch abgesehen von Zwischenmenschlichem noch um „Transparenz“ (S. 46), den „Kampf gegen die Armut“ (S. 51), „Sprachlosigkeit“ (S. 52) sowie um vieles mehr dreht, ist nicht ersichtlich. Dasselbe gilt für den mit „Zur Sache“ überschriebenen dritten Teil. Hier stößt man auf poetische Bilder zum Glaubensverlust – „Innenhof / Die Krähe fliegt von Mauer zu Mauer. / Wie wenig lockt doch der Himmel“ (S. 61) –, ebenso wie auf selbstreflexive Genrebestimmungen – „Aphorismen sind die / Schlagzeilen der Literatur“ (S. 67) – oder auf Anti-Proverbien – „Der Teufel erstickt / im Detail“ (S. 75) –, was die Lesererwartung, nun endlich den gedanklichen Kern der Zusammenstellung präsentiert zu bekommen, erheblich enttäuscht.

All das mindert wohlgemerkt nicht die Qualität der einzelnen Texte, unter denen neben „Man überwindet Grenzen / und hält sie für die eigenen“ (S. 33) namentlich der auf die aktuelle Krise der Demokratie gemünzte und mit den Feinheiten des Konjunktivs operierende Kommentar „Wir widersprechen einander, / als hörten wir zu“ (S. 15) hervorsticht. Allerdings gibt es kein Licht ohne Schatten. So weisen Corbinos Denksprüche nicht selten logische Brüche bzw. Katachresen auf – besonders dort, wo „[j]edes zusätzliche Schloss / […] der Angst die Tür [öffnet]“ (S. 13), wo „kleine Schritte / […] das Ziel [ermüden]“ (S. 14) oder wo „[h]inkende Vergleiche“ (S. 35) zu „Stolpersteine[n]“ (ebd.) mutieren. Außerdem sind mache Kurzdefinitionen so stark verknappt, dass sich selbst bei bestem interpretatorischem Willen der Sinn der Aussage nicht erschließt: „Nachdenken / Kopfstimme“ (S. 22). Da die meisten Beiträge ernst bis grüblerisch anmuten, wirken gelegentliche Kalauer und Brachial-Wortspiele schlichtweg störend. Entsprechend hätte man auf „Chronos / Die Tage sind gezähnt“ (S. 76) gleichermaßen verzichten können wie auf „Sündenbock / Auf ihn ist Verhass“ (S. 72). Nimmt man dann noch die im Debütband funktionale, hier freilich idiosynkratische Typographie hinzu, die in zwei Fällen sogar zu unnötigen Worttrennungen führt (vgl. S. 9; 85), kommt man zu dem Schluss, dass dem Buch ein wenig Zeit zum Reifen gefehlt hat. Dessen unbeschadet kann Corbino, der sich bewundernswert kurz zu fassen versteht, zu den derzeit vielversprechendsten Vertretern des aphoristischen Minimalismus im deutschen Sprachraum gezählt werden.

 

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