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Michael Wollmann über:
Heimito Nollé: Scherbengerichte. Aphorismen, Books on Demand, Norderstedt 2023 (88. Band der edition offenes feld, hg. von Jürgen Brôcan).

 

Der Schweizer Journalist Heimito Nollé (*1970) serviert uns dieser Tage in einem handlichen Hardcoverbändchen knapp 200 neue aphoristische „Scherbengerichte“ aus seiner Feder.
Schon der Titel dieses vierten Aphorismenbandes lässt erahnen, dass uns in diesem Fall nicht etwa Wohlbekömmliches serviert werden soll, sondern eher scharfsinnige, bzw. scharf zugeschliffene gesellschaftskritische Miniaturen zu erwarten sind. Dementsprechend ist auch im Klappentext etwas pathetisch und äußerst sarkastisch davon die Rede, dass der Welt mit diesem Buch ein „aus ihren eigenen Stücken und Scherben gekochtes Gericht“ vorgesetzt werden soll, „das ihr – und mit ihr den Lesenden – lange im Hals stecken bleibt“.

Nollés diesbezügliches Selbstverständnis ist auch dem vorangestellten Motto von Ludwig Hohl zu entnehmen, aus dem ein lakonisch zu verstehender Ästhetizismus zu uns spricht: „Auch Glasstücke, schön geschlagene, sind hübsch.“
Überhaupt scheint Ludwig Hohl einen gewissen Einfluss auf Nollés neue Publikation ausgeübt zu haben. So findet sich auf Seite 11 der Aphorismus „Nuancen sind keine Details.“, der auf Hohls essayistisch-aphoristische Veröffentlichung „Nuancen und Details“ (1939-42) wohl direkt verweist.

Mit Ludwig Hohl teilt Heimito Nollé sicherlich eine gewisse Eigenwilligkeit des Denkens, das oftmals sehr konkret Bezug auf gegenwärtige kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen nimmt (den „tollhäuslerischen Tendenzen der Gegenwart“, wie es im Klappentext heißt). Als exemplarische Beispiele seien hierzu die folgenden Aphorismen genannt: „Manche erfundene Romanhandlung erweist sich literarisch als True Crime.“ (S. 15). „Der Wolf betrieb cultural appropriation und streifte sich den Schafspelz über.“ (S. 21). „Auch Pandemien haben ihre vergessenen Veteranen.“ (S. 24). „Die sozialen Medien fördern innere Landschaften zutage, die wir gar nie besichtigen wollten.“ (S. 31). „Aphorismus – das Tiny House der Literatur.“ (S. 38).
Solche originellen, kulturkritischen Eingebungen, Kommentare und experimentellen Spielereien sind durchaus mit Gewinn zu lesen und regen das eigene Nachdenken an. Sie stehen in einem erhellenden Kontrast zu den gängigen schematischen, teilweise überholten Formen und Wortspielereien der landläufigen Trivialaphoristik. Sicherlich beherrscht Nollé auch die alten, eher sprachspielerischen Formen und versteht sich vorzüglich darauf, die aphoristischen Kleinkunstformen in seiner Weise zu variieren.

Es finden sich beispielsweise einige eher ungewöhnliche Er-, bzw. Sie-Aphorismen in Nollés „Scherbengerichten“, die in der Form von kaleidoskopischen Miniaturen präsentiert werden: „Am freiesten atmete er bei 200 km/h auf der Autobahn, den herben Waldgeruch des Lufterfrischers in der Nase.“ (S. 26). „Der Installationskünstler entriss dem ertrinkenden Flüchtling die Schwimmweste, um sie in der Londoner Tate Gallery als Mahnmal der Humanität auszustellen.“ (S. 39). „Der erfolgreiche kleine Mann war auch nach der hundertsten Fahrt in der Stretch-Limousine keinen Zentimeter grösser.“ (S. 43) oder „Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere sah sich die professionelle Bowlerin vor die Entscheidung gestellt: Kind oder Kegeln.“ (S. 45).
Dezidierte Puristen der Gattung mögen über solche teilweise eher kalauerhaften Eingebungen vielleicht den Kopf schütteln, aber eher an Wortwitz interessierten Lesern wird ein solches gebotenes Maß an Abwechslung wahrscheinlich hochwillkommen sein.

Gelegentlich arbeitet Nollé mit kursiv gesetzten Überschriften, teilweise wohl auch, um dialektische Gegenüberstellungen pointierter herauszustellen:

„Wunder der Vorstellungskraft“
Aus grauen Zellen erblühen die buntesten Welten.“ (S. 24)
„Berufscharaktere“
Aussendienstler fühlen sich nur ausser Haus zuhaus. Innendekorateurinnen sind viel lieber drinnen.“ (S. 34)
„Nicht von gestern“
Die Eintagsfliege darf sich brüsten:
Sie bleibt tagesaktuell.“ (S. 41)
„Aus dem west-östlichen Divan“
Im Westen: Kleider machen Leute.
Im Osten: Leute machen Kleider.“ (S. 45)

Wie die meisten Aphoristiker ist auch Nollé eher zwanglos darum bemüht, manchen Gedanken in der kürzestmöglichen Form zu präsentieren. So lassen sich beispielsweise die folgenden definitorischen oder lyrisch angehauchten Ein-Wort-, bzw. Zwei-Wort-Sätze in seinen „Scherbengerichten“ finden: „Twitter-Moral: Mundgerechtigkeiten.“ (S. 12). „Erschüttertes Haar.“ (S. 22). „Stille auflegen.“ (S. 25). „Kulturförderungsmastschweine.“ (S. 26). „Aphorismen: Spottlights.“ (S. 53). „Apokalypiker: Doomprediger.“ (S. 57).

Der Grundtonus der „Scherbengerichte“ ist bei aller Variation der Formen ein dezidiert pessimistisch-sarkastischer, bzw. kulturkritischer. Manche Aphorismen zu den Themen Geschichte und Krieg sind sicherlich vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs zu verstehen, bzw. wohl überhaupt erst vor diesem Hintergrund entstanden. Manche diesbezüglichen Auslassungen wirken nach dem 7. Oktober (die „Scherbengerichte“ sind am 12. Mai 2023 erschienen) gar wie ein Fanal: „Um dem Barbarismus zu entkommen, braucht es die Willenskraft von Barbaren.“ (S. 16). „Geschichte ist ein Begleitgeräusch der menschlichen Existenz, das in regelmässigen Abständen zum Sturm anwächst.“ (S. 16). „Geschichte: eine heilsarme Erfahrung.“ (S. 19). „Vielleicht ist es hinter der Ecke, um die wir gebracht werden, schöner?“ (S. 21). „Die Köpfe, die wir uns eingeschlagen haben, hätten wir uns lieber zerbrochen.“ (S. 28). „Die Bilder vom Krieg sind lange da, bevor wir die Worte finden.“ (S. 30). „Kriegsverbrechen – ein Pleonasmus.“ (S. 34). „Dass sich die dunkelsten Nächte der Geschichte nicht wiederholen, war eine westliche Tagträumerei.“ (S. 45).

Hoffnung bleibt da wenig, auch wenn der Aphorismus in solch schweren Zeiten womöglich ein wenig Trost, bzw. Linderung der Schmerzen angesichts der menschengemachten Leiden in der Welt zu bieten vermag: „Der Aphorismus kann seine Herkunft aus der Diätetik nicht verleugnen: Er sorgt für heilsame Entleerung.“ (S. 36). Ob es eine solche „heilsame Entleerung“ (in hippokratischer Tradition?) nicht nur für den nieder-schreibenden Aphoristiker, sondern auch für den nachdenklichen Leser geben kann?

Abschließend bleibt festzuhalten, dass Heimito Nollé mit seinen „Scherbengerichten“ ein erstaunlich tagesaktueller Aphorismenband gelungen ist, der trotz des geringen Umfangs der Sammlung und einiger eher kalauerhafter Elemente seine Berechtigung hat und hoffentlich den einen oder anderen interessierten Leser und Nach-Denker finden wird. Stoff zum Nachdenken bietet der Band in jedem Fall genug, der uns mit dem rätselhaften Satz „Die Wahrheit ist gefleckt.“ (S. 58) leider etwas zu vorzeitig Abschied nehmen lässt.

 

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