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Michael Wollmann über:
Jürgen K. Hultenreich: Weltanschauung ist unheilbar. Aphorismen. Berlin: PalmArtPress 2025.

 

Unter dem ironischen Titel „Weltanschauung ist unheilbar“ ist dieser Tage nach „Versager enden scheintot“ (2012) und „Ziele stehen im Weg“ (2016) ein äußerst umfangreicher Aphorismenband des für Rundfunk und Fernsehen tätigen Autors Jürgen K. Hultenreich (*1948) erschienen, der auch Material aus älteren Veröffentlichungen enthält und somit wohl als Hultenreichs vorläufiges „Opus Magnum“ angesehen werden kann.

In seinem knappen Vorwort zum Band liefert Friedemann Spicker einige Anhaltspunkte zum technischen Können des DAphA-Preisträgers (3. Platz 2012), der demnach versiert und kreativ mit aphoristischen Formen wie der Definition, der Paradoxie, der Umkehrung sowie der Abwandlung von sprichwörtlichen Wendungen umzugehen wisse. Auch die gattungsbeherrschenden Themen der zeitgenössischen Aphoristik würden bei Hultenreich ausreichend Berücksichtigung finden, wobei das Genuine bei ihm Politik und Spiel ausmachten: „Politik als erlebte und erlittene Realität wie als ständig beobachtete Gegebenheit; Spiel als Sinn für das Surreale und die Situationskomik. Beide stehen in Spannung zueinander, wirken aber auch zusammen.“ (S. 8).

Was Politik als „erlittene Realität“ angeht, so sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass Hultenreich im Jahr 1966 nach einem Fluchtversuch aus der DDR sechs Monate lang in seiner Geburtsstadt Erfurt inhaftiert wurde, wovon er drei Wochen in der Psychiatrischen Klinik Mühlhausen-Pfafferode zubringen musste, in die er zwangseingewiesen wurde. Erst im Jahr 1985 wurde ihm die Ausreise aus der DDR gestattet. Dieser einschneidende biographische Umstand hatte zweifellos Auswirkungen auf Hultenreichs Aphoristik, die sich insbesondere beim Thema Politik oftmals von ihrer scharfzüngigsten, aber gleichzeitig auch polemischsten Seite zeigt.

Hultenreichs spielerischer Umgang mit der eigenen Aphoristik spiegelt sich hingegen bereits in der Tatsache wider, dass er bei 267 Seiten an aphoristischem Material komplett darauf verzichtet, eine Einteilung in Kapitel vorzunehmen und stattdessen ein buntes Sammelsurium präsentiert, das keiner Logik folgt und zum Stöbern einlädt. Dabei dominiert der für die Gattung typisch gewordene, bevorzugt kurze Ein-Satz-Aphorismus, und nur in einigen seltenen Fällen hält der Autor es für notwendig, einen zweiten Satz anzufügen.

Die Texte selbst sind von unterschiedlichster Qualität. Eher unerfreulich ist für den Aphorismenkenner dabei die Tatsache, dass in der Sammlung einige Aphorismen auftauchen, die offenkundig auf bekannten Vorlagen beruhen oder aber bereits so gebräuchlich sind, dass es für einen Autor fast schon lächerlich wäre, eine Urheberschaft für sich zu beanspruchen. Interessanterweise liefert Hultenreich zu diesem Umstand einen Satz, der nachgerade als vorweggenommene Entschuldigung für (unbewusste) Plagiate verstanden werden könnte: „Seit Adam bis zu dieser Stunde kam es niemals darauf an, ob etwas neu oder alt war, sondern nur ob echt oder unecht.“ (S. 26, taucht wieder auf S. 207 auf und ist nicht der einzige Aphorismus, der wohl versehentlich doppelt in der Sammlung vertreten ist):

„Buchhandlungen machen Apotheken Konkurrenz. Auch in ihnen gibt es Brechmittel.“ (S. 24; vgl. mit Ebner-Eschenbach: „Wenn ich ein Brechmittel brauche, hole ich es lieber aus der Apotheke als aus der Buchhandlung.“)

„Geschichts-Designer prophezeien die Vergangenheit.“ (S. 27; vgl. mit Friedrich von Schlegel: „Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet.“)

„Es ist mir schleierhaft, wie man schwul oder lesbisch sein kann. Das andere ist doch schon schlimm genug.“ (S. 57; vgl. mit Egon Friedell: „Ich verstehe nicht, wie man homosexuell sein kann. Das Normale ist doch schon unangenehm genug.“)

„Wer bei dir über andere lästert, tut es bei anderen über dich.“ (S. 73; gängiger Spruch zur Lebensweisheit, der in der folgenden, fast identischen Form seit dem Jahr 2013 belegt ist: „Wer bei dir über andere lästert, lästert auch bei anderen über dich!“)

„Am modischsten ist immer die Nieder-Tracht.“ (S. 76; belegt seit 1891 in den „Fliegenden Blättern“: „Eine Tracht kommt nie aus der Mode – die Niedertracht.“)

„Ich auf die Frage, ob mir die DDR bekannt gewesen sei: „Ja, flüchtig.“ (S. 84; vgl. mit Michael Richter 1993: „Kannten sie die DDR? Ja, flüchtig!“)

„Auch Ratschläge sind Schläge.“ (S. 110; sprichwörtliche Wendung, die so gesichert seit dem Jahr 1981 belegt ist).

Auch wenn die Gefahr vor allem bei kurzen und wortspielerischen Aphorismen groß ist, dass Ähnliches schon einmal zu Papier gebracht wurde, scheint bei Hultenreich die bewusste Abwandlung, bzw. Adaption System zu haben, wofür es durchaus Entschuldigungsgründe geben kann, wenn es beispielsweise ähnliche Lebensschicksale von Autoren gibt (siehe Michael Richter und Jürgen K. Hultenreich, die beide letztendlich froh darüber sein konnten, die DDR „flüchtig“ zu kennen) oder in den Neufassungen eine besondere Betonung vorliegt, die es in den Vorlagen noch nicht gab. (Der Topos des „Geschichts-Designers“ als pejorative Bezeichnung für den modernen Historiker und/oder Journalisten (?) spielt bei Hultenreich in gleich mehreren Aphorismen eine besondere Rolle; natürlich ist Misstrauen gegenüber der Geschichtsschreibung immer angebracht, aber Hultenreichs Kritik ergeht sich leider größtenteils in einer bloßen Schlagwort-Polemik.) Doch bei dieser – nur exemplarisch wiedergegebenen – Häufung an ähnlichem, bzw. augenscheinlich übernommenem Gedankengut lässt sich letztendlich nur ein ausgesprochen lascher Umgang des Autors mit den Texten anderer Autoren konstatieren.

Das ist insofern schade, da Hultenreich als Autor keineswegs ideenlos ist und auch eigenständig aphoristische Perlen zu produzieren weiß. Dazu zählt beispielsweise die paradoxe Wendung „Als junger Mensch muss man in die Welt gehen, um sich kennenzulernen. Zu Hause sitzend lernt man nur die Welt kennen.“ (S. 33) oder eine gut gewählte tierische Metapher für menschliche Selbstüberschätzung: „‚Noch dämmert es nicht‘, sagte der Hahn. ‚Der Tag wartet auf mein Zeichen.‘“ (S. 44), die in ähnlicher Form später noch einmal auftaucht: „Jeder Wetterhahn glaubt, er bestimme die Richtung des Windes.“ (S. 70). Ein Perspektivwechsel, der durch die bemerkenswerte Wendung „Wir sind Lebensmittel und gehen zum Arzt, um unser Verfallsdatum zu erfahren.“ (S. 91) vorgenommen wird, ist ähnlich erhellend wie die subtile Sprachbeobachtung: „Den letzten Rest von Vornehmheit repräsentiert der Tod. Er ist eingetreten, heißt es.“ (S. 96) Auch das Weiterdenken von Sprichwörtern führt bei Hultenreich bisweilen zu erhellenden Einsichten: „Der Lärm in dieser Welt begann mit der Forderung, jeder solle seines Glückes Schmied sein.“ (S. 104) Für Hultenreichs ästhetisches Gespür zeugt der Satz „Von jeder Reise kommen wir mit der Heimat im Gepäck zurück.“ (S. 159) Schließlich sind auch einige kritische Aphorismen Hultenreichs zu den Themenfeldern Politik und Sozialismus nicht ohne subtilen Hintersinn: „In der DDR konnte man viel über Claqueure in geschlossenen Systemen erfahren, nach der Wende über die in offenen.“ (S. 38); „Was ist ein Diplomat? Einer, der von sich reden macht mit dem, was er nie gedacht haben kann.“ (S. 73); „Lass dich von Politikern betrügen. Erschwere nicht das Funktionieren der Demokratie.“ (S. 83); „Wer eine Rede leichter hält als sein Wort, ist politisch begabt.“ (S. 108); „Was in anderen Ländern der Revolutionär, ist in Deutschland der Wahlkampfhelfer.“ (S. 118); „Diktatur-unerfahrene Sozialisten wissen nichts vom Sozialismus, da sie an ihn glauben.“ (S. 147).

Eher gewöhnungsbedürftig, aber nicht gänzlich reizlos sind Hultenreichs zahlreiche Aphorismen mit schwarzhumorigem oder morbidem Anstrich: „Die Letzte Ölung: Damit es beim Übergang nicht so quietscht.“ (S. 35); „‚Ich will Nägel mit Köpfen machen‘, sagte Herr Guillotine bei der Erprobung seiner Erfindung.“ (S. 53); „Keine Nacht bricht herein. Sie kommt als Stuhlgang des Tages heraus.“ (S. 65); „Wir bekommen Zähne, um für das Ins-Gras-Beißen gewappnet zu sein.“ (S. 68)

Demgegenüber stehen – neben den bereits erwähnten Adaptionen – zahlreiche wortverspielte und alberne, teilweise abgedroschene Aphorismen mit müden Pointen, die der Autor sich und uns besser erspart hätte: „Einsamkeit kann nicht ver-zwei-feln.“ (S. 20); „Durch einen Sprachfehler konnte er statt „N“ nur „F“ sagen. So kam er täglich zu seinem Nickerchen.“ (S. 27); „Ein Dicker, nach dem Weg befragt: „Gehen Sie um mich herum – und dann geradeaus!“ (S. 36); „Sie wollte sich ertränken. Aber es war weit und breit kein Schwimmer zu entdecken.“ (S. 60); „Mit dem Satz, nur die Dummen hätten Glück, schlief sie ein, um als Kanzlerkandidatin geweckt zu werden.“ (S. 82); „Ideologen fälschen das Morgen.“ (S. 85); „Manch ein Fach-Idiot ist nur Letzteres.“ (S. 99); „Auch der Anti-Rassist träumt in schwarz-weiß.“ (S. 101); „Ihre Jahre, die eine Frau altersmäßig verschweigt, klebt sie einer anderen dran.“ (S. 111); „Die Witwe nach der Beerdigung ihres Mannes: „Nun weiß ich wenigstens, wo er nachts steckt.“ (S. 112); „Nirgendwo auf der Welt gäbe es noch Patina, hätte der Mann nicht den weiblichen Staubsaugerfimmel in andere Bahnen gelenkt.“ (S. 139); „Alle hielten ihn für weise. Dabei hieß er ganz anders.“ (S. 151); „Gender-Wahn. Müsste jetzt nicht auch Mannheim umbenannt werden?“ (S. 160); „Habermas. Nachdenken über die Hasenscharte.“ (S. 162); „Sie war Feuer und Flamme – im Krematorium.“ (S. 207); „Tautologie: Linker Soziologe.“ (S. 226).

Der Gesamteindruck von Hultenreichs neuem Aphorismenband „Weltanschauung ist unheilbar“ bleibt letzten Endes ambivalent: Dass er die gesamte Bandbreite der aphoristischen Techniken vom Er-Aphorismus bis zum Wellerismus beherrscht, steht außer Frage. Humor und Scharfsinn weiß er oftmals fruchtbringend miteinander in Einklang zu bringen, um in teilweise phantastischen Aphorismen Möglichkeiten fernab der Wirklichkeit aufzuzeigen (vgl. Vorwort Spicker S. 8f.). Während er bestimmte Themen wie die (zeitgenössische) Politik und DDR-Geschichte immer wieder kritisch bis polemisch hinterfragt (und dabei auch nicht um das allseits beliebte, aber nicht gerade sonderlich originelle Grünen-Bashing herumkommt: „Die Grünen fordern ‚Inklusion‘ als Staatsziel, exkludieren jedoch alle, die nicht ihrer Meinung sind.“, S. 40; „Bei den Grünen übertrifft die Zahl der Verbotsschilder die der Wegweiser.“, S. 59), zeigt er sich bei anderen Themen wie z. B. der Religion erstaunlich zurückhaltend und geradezu handzahm („Religiös zu sein, ist die vernünftigste Art der Einbildung.“, S. 94; „Gott ist größer als unser Wissen. Nur der Glaube wird ihm gerecht.“, S. 166; „Je sozialistischer der Papst, umso konservativer stöhnt Jesus aus der Bibel.“, S. 193; „Am Nachbartisch wird über Gott und ob er existiere diskutiert. Allein dass er dies zulässt, ist Beweis genug für ihn.“, S. 196; „Bevor er sein Kirchen-Austrittsformular unterschrieb, bekreuzigte er sich.“, S. 259).

Da Hultenreich als Erster Landkomtur der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden fungiert, wäre es vermutlich auch verfehlt, dezidiert religionskritische Aphorismen von ihm zu erwarten. In jedem Fall bewahrheitet sich Hultenreichs ironischer Aphorismus, den er passenderweise zum Buchtitel kürte, auch in der Anwendung auf ihn selbst: Hier s(t)ehe ich, und kann nicht anders – schreiben!

 

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