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Friedemann Spicker:
Kleine Entgegnung auf Jürgen Werner

 

Jürgen Werner gehört zu den Gegenwartsautoren, die wir besonders „auf dem Schirm“ haben. 2015 haben wir seine „Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens“ und seine „Sprachbilder“ (Hg., gem. mit Hans-Georg Pospischil. Ein illustriertes Alphabet des Lebens, beide Frankfurt: tertium datur) kennen gelernt. Wir haben ihn daraufhin zu unserer Tagung 2016 als Referenten eingeladen, wo er unter dem Titel „Alles andere als Weisheit“ einen anregenden und thesenreichen Vortrag hielt. Den Aphorismus verstand er da als eine Form des Ausweichens vor der Weisheit. Im Tagungsband haben wir auch Auszüge aus seinem Blog juergen-werner.com abgedruckt und seinen Blog seither regelmäßig verfolgt. Schon in der dapha-depesche 15 ist daraus ein Zitat entnommen: „Die Kunst des Aphorismus besteht darin, den Satz genau so knapp zu halten, dass der Gedanke nicht zu kurz kommt.“

Nun gibt ein einschlägiger Beitrag in seinem Blog erneut Anlass zur Diskussion:

Jürgen Werner: Der kleine Betrug des Aphorismus
https://juergen-werner.com/der-kleine-betrug-des-aphorismus/
Verfasst: 21. April 2025 um 16:28
Aphorismen wollen zu denken geben. Und wählen dabei eine Form, die den Anschein erweckt, als sei ihr Autor schon mit dem Denken fertig. Punkt und Pointe, Knappheit und Einzigartigkeit ergeben eine kleine, vollendete sprachliche Preziose, die aufregen und anregen soll. Nur dass sie, so formuliert, ins Gespräch nicht einladen. Wer dem Aphorismus etwas anfügt, hat ihn nicht verstanden.

Der Beitrag will in seiner Abfolge Satz für Satz bedacht sein.
1 „Aphorismen wollen zu denken geben.“
Ein klarer und schlichter Einstieg, an dem es nichts zu deuteln gibt.

2 „Und wählen dabei eine Form, die den Anschein erweckt, als sei ihr Autor schon mit dem Denken fertig.“ Hier nun ist entschiedener Widerspruch geboten. Nichts erweckt den Anschein, nichts ist fertig. Der Aphorismus findet nach einem langen Gedankengang zu einer Form, die die Autorin oder der Autor als so hinreichend geklärt betrachtet, dass er sie sprachlich zu fixieren wagt und damit der Reflexion eines anderen aussetzt. In diesem Sinne ist die alte Mautner’sche Alternative Einfall und Klärung gemeint, allerdings integrativ, nicht alternativ und als Opposition gedacht. In diesem Sinne ist auch der berühmte Aphorismus Ebner-Eschenbachs „Ein Aphorismus ist der letzte Ring einer langen Gedankenkette“ gemeint; er schließt einen Gedanken ab, eine Kommunikation auf.

3 „Punkt und Pointe, Knappheit und Einzigartigkeit ergeben eine kleine, vollendete sprachliche Preziose, die aufregen und anregen soll.“
Hier werden Elemente der Gattungsbestimmung genannt. Gegen die „Preziose“ kann auch der vorsichtigste Verteidiger des Aphorismus nichts einwenden. Auch die Funktionen „aufregen und anregen“ sind gängig. Sie fassen Provokation, Widerspruch, Weiterführung zusammen; der Aphorismus ist im besonderen Maße auf diese aktive Rezeption angewiesen: Er will „zu denken geben“, wie es im Einstieg noch allgemein heißt.

4 „Nur dass sie, so formuliert, ins Gespräch nicht einladen.“
Der innere Widerspruch zum Vorigen, in dem es ausdrücklich um „aufregen und anregen“ geht, ist eklatant. Die „Einladung“ fällt logisch und sachlich dahinter zurück. Das „Gespräch“ ist eine eher unglückliche Metapher, auch wenn es auf weite historische Zusammenhänge verweist, auf die Differenz des aus mündlicher Tradition erwachsenden Spruches und des Epigramms, schon von seiner Etymologie her genuin schriftlichen Charakters und damit bei aller Differenz dem Aphorismus näher; auf den ambivalenten Zusammenhang von Aphorismus und Konversation in der Zeit der klassischen französischen Moralistik.

5 „Wer dem Aphorismus etwas anfügt, hat ihn nicht verstanden.“
Nach der Argumentation zu Satz 2 und 4 bleibt nur die schlichte Antithese: Nur wer dem Aphorismus in diesem Sinne „etwas anfügt“, hat ihn (vielleicht) ganz verstanden.

 

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