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Friedemann Spicker über:
Marie von Ebner-Eschenbach: Gesammelte Aphorismen. Erstmals chronologisch geordnete und vielfach ergänzte Ausgabe. Herausgegeben von Michael Wollmann und Bernd-Christoph Kämper. o.O.: LuLu 2023.

 

Wahlweise „die Aphoristikerin schlechthin“ oder „die größte deutsche Aphoristikerin“, in jedem Fall eine „Ausnahme“ in einer männlich dominierten Gattung: das gilt für Marie von Ebner-Eschenbach, seitdem sie 1880 im Alter von 50 Jahren eine Auswahl von dreihundert ihrer Aphorismen veröffentlichte. Die Sammlung ist später bis zu den „Gesammelten Schriften“ von 1893 und den „Sämtlichen Werken“ von 1905 mehrfach erweitert und sprachlich überarbeitet worden, einige Texte wurden hier und da auch ausgesondert. Sie wurden schon nach der Erstausgabe hoch geschätzt: „Diese unvergleichliche und unnachahmliche Kürze ist eine großartige literarische Leistung.“ (Frankfurter Zeitung, Ausschnitt von der Autorin eingelegt in: Tagebücher, Bd. 3, Januar 1882) In Eduard Engels „Geschichte der deutschen Literatur“ von 1906 heißt es: „Das absolut Werthvollste […], was die deutsche Gnomen- und Spruch-Literatur aufzuweisen hat. […] Die neuere deutsche Prosaliteratur besitzt kaum ein zweites Buch mit so gütevoller Lebensweisheit wie die Aphorismen der Ebner, ein schon jetzt klassisches Werk, das in Volksausgaben verbreitet werden sollte.“ Und der Aphorismusforscher Harald Fricke formuliert es 1984 bündig so: „In ihr hat die Gattung ihre ideale Mitte.“ Das bedeutet nicht, dass ihr bis auf den heutigen Tag eine auch nur solide Ausgabe gewidmet worden wäre (um von einer historisch-kritischen zu schweigen). An Leseausgaben, die auf den ersten Band der „Gesammelten Werke“ von 1956 folgten, mangelt es nicht. Es sind Mischausgaben auf der Basis der Ausgabe von 1893 wie die bei der Insel in Leipzig 1982 erschienene; teils enthielten sie auch einige Texte aus dem Nachlass, etwa die von Ashliman 1974 in einer kleinen Liste veröffentlichten, so die Ausgabe bei Reclam (Stuttgart) von 1988 und die Geschenkausgabe von 2021 („Es gibt kein Wunder für den, der sich nicht wundern kann“, Reclam 2021).

Der Herausgeber Michael Wollmann hat zuvor schon eine erkleckliche Reihe von Aphorismenbänden durch Neudrucke wieder zugänglich gemacht. Ich nenne nur aus dem 19. Jahrhundert Otto von Loebens (1786-1825) „Lotosblätter“ (1817), Karl Ernst Ernsthausens (1782-1847) „Gedankenstriche“ (1843), Friedrich von Raumers (1781-1873) „Spreu“ (1848), Joseph Stanislaus Zaupers (1784-1850) „Aphorismen moralischen und ästhetischen Inhalts, meist in Bezug auf Goethe“ (1840) und Otto von Leixners (1847-1907) „Aus der Vogelschau. Sprüche und Stachelreime“ (1890) sowie aus dem 20. Jahrhundert Salomon Baer-Oberdorfs (1870-1940) „Wetterleuchten“ (1909), Paul Richard Lucks (1880-1940) „Stimmen der Stille“ (1919) und Helene Gräfin Waldersees (1850-1917) „Späne aus stiller Werkstatt“ (1908).

Der Ebner-Eschenbach-Band nun ist das bisher ambitionierteste Projekt, denn er ist kein reiner Nachdruck, sondern eine editorische Leistung. Bis zu einer historisch-kritischen Ausgabe ist zwar, wie Wollmann selbstverständlich einräumt, noch ein weiter Weg, aber er ist hier gebahnt. (Dafür wären beispielsweise die Tagebücher (7 Bände, 1889-1997) noch heranzuziehen; auch sind alle Texte, ohne Berücksichtigung kleiner Abweichungen der Textgestalt, der modernen Orthographie angepasst.) Der Herausgeber entscheidet sich als Zwischenlösung dafür, die vielzitierten Texte zum ersten Mal konsequent chronologisch zu ordnen und mit einzelnen Anmerkungen zu versehen, die den Weg jedes einzelnen gedruckten Aphorismus nachvollziehen lassen. (Das bedeutet etwa auch, dass die „Aphorismen“ in den „Gesammelten Schriften“ von 1893 (S. 83) nur mit zwei hier erstmals gedruckten Texten vertreten sind.) Dem Bild der Aphoristikerin gibt die Ausgabe ein vielfach verbessertes Fundament; ein weites philologisches Feld ist damit eröffnet.
Ich will exemplarisch nur vier Aspekte herausstellen.

Zwar sind vereinzelt unselbstständig veröffentlichte Aphorismen oder solche aus dem Nachlass schon früher veröffentlicht (und von Wollmann berücksichtigt) worden: so in unzulänglicher Form 1916 („Aus einem zeitlosen Tagebuch“), 1946/47 („Der Wächter“), 1958 (1963?, Heinz Rieder), 1974 (Dee Ashliman).[1] Aber hier sind die „in keiner Buchausgabe“ wiederabgedruckten Texte konsequent als Erstdrucke verzeichnet und in eine chronologische Abfolge gebracht, beispielsweise neun von elf Aphorismen aus den „Dioskuren“ 1888 (S. 66f.) oder neun von zehn aus dem „Magazin für Literatur 1891 (S. 78f.). Ein paar willkürliche Beispiele: „Strenge gegen andere, was beweist sie? – Dass wir uns selbst nicht kennen.“ (S. 67); „Es gibt wahre Helden der Gleichgültigkeit.“ (S. 78); „Selbst ein Engel ist kein Engel gegen Ungeliebte.“ (S. 81) Die Frage, was Ebner-Eschenbach nicht in die jeweils aktuelle neue Auflage aufgenommen hat (und aus welchem Grund), lässt sich nicht immer so leicht beantworten wie vielleicht in diesem Fall: „Hinter jeder Affektation steckt Lüge, und es gibt nichts Affektierteres als manche unserer Veristen.“ (S. 82) In jedem Fall ist sie weiterer detaillierter Überlegung wert.

Diese Frage stellt sich verschärft auch, wenn man allein den Weg durch die Auflagen (1. Auflage 1880 S. 17-36; 2. Auflage 1884 S. 46-50; 3. Auflage 1890 S. 71-75; 4. Auflage 1895 S. 85; 5. Aufl. 1901 S. 96; 6. Aufl. 1906 S. 106-108; 7. Aufl. 1911 S. 111)[2] verfolgt und genau erkennen kann, wann wo welcher Aphorismus fehlt.[3]

Besonders die Signale der Abschwächung, Einschränkung, Schärfung gestatten neue wertvolle Einblicke in die nie abgeschlossene Textarbeit der Autorin. Die Anmerkungen erlauben es, alle Aphorismen zu identifizieren, die später in Wortlaut, Satzbau, Grammatik oder auch Orthographie, Interpunktion und Typographie abgeändert sind (so werden etwa die „Samenkörner“ zu „Vorboten“ [S. 25, Anm. 87], die „Ehre“ zu „Glück“ [S. 71, Anm. 333], der „hochstehende“ zu einem „ausgezeichneten“ Mann [S. 25, Anm. 90]) oder auch vollständig neu formuliert werden (S. 26, Anm. 97).

Die „Inhaltsangabe“ eröffnet zum ersten Mal einen genaueren Einblick in die publizistischen Bemühungen der Autorin. Die Teildrucke reichen von den „Dioskuren“ (1876-1891 siebenmal) und dem „Wiener Almanach“ (1892-1900 dreimal) bis zu Cottas „Musenalmanach“ von 1896 und der besonders renommierten „Deutschen Rundschau“ 1903. Ebner-Eschenbach bietet ihre Texte erfolgreich den Wiener Zeitungen, den Wochenschriften, Monatsheften und Almanachen an; es finden sich hier neben Entlegenstem wie der „Hausfrau“, einer österreichischen Frauenzeitschrift, die von 1877 bis 1884 in Wien erschien (1881; S. 40), der „Mädchenbibliothek Freia“ („zur Bildung von Geist und Gemüt für Deutschlands Töchter“, 1894; S. 84) oder dem seit 1912 erschienenen „Jahrbuch der Frauenbewegung“ (1913; S. 112) Publikationen wie „Säbel und Feder“, eine Festschrift für den Militärschriftsteller Carl von Torresani (1906; S. 109), das „Jahrbuch des Scheffelbundes in Österreich“ (1891; S. 80) oder die Kneipzeitung eines Münchner Gymnasiums (1908; S. 110). „Umtriebig“, wie es im Nachwort heißt (S. 141), war die Schriftstellerin in der Tat!

Ich komme auf die Frage zurück, worauf die einzigartige Wirkung Marie von Ebner-Eschenbachs beruht. Ihre Wirkungsgeschichte ist noch nicht geschrieben; sie reicht von Arthur Schnitzler und Rosa Mayreder bis zu Heinrich Waggerl nach dem Zweiten Weltkrieg – Kraus schweigt, das allein sagt viel. Sie hat ohne Zweifel musterbildend gewirkt. Das mag auch mit der „idealen Mitte“ der Gattung zusammenhängen, die sie nach Fricke besetzt, „Mitte“ nicht im Sinne von Mittelmaß oder gar mittelmäßig, wohl aber in dem Sinne, dass charakteristisch für sie weder die Härte apodiktisch zersetzender Kritik, wie etwa bei Nietzsche oder Kraus, noch in der Regel die unverbindlich gemütvolle Milde ist, die schnell ermüdet, weil sie gut und gut gemeint verwechselt. Sie besetzt diese Mitte wirkungsmächtig dort, wo sie das optimistisch Gütige skeptisch-dialektisch auszubalancieren versteht.

Nötige Schlussbemerkung: Von einem Verdienst, das sich die Herausgeber mit dieser Edition erworben haben, kann man allein deshalb sprechen, weil sie nicht im universitären Rahmen enstanden ist, sondern von jemandem betrieben wurde, den man früher als „Liebhaber“ bezeichnet hätte. Man kann ihr nur weite Verbreitung wünschen!

 

[1] Dee L. Ashliman: Marie von Ebner-Eschenbach und der deutsche Aphorismus. In: Österreich in Geschichte und Literatur 18, 1974, S. 155-165, hier S. 162-165 im Anhang seines Aufsatzes; bei Wollmann nur als Sekundärliteratur S. 147 verzeichnet, aber konsequent verarbeitet.

[2] Dabei ist es nur ein besonderer Fall, dass sie 1884 und 1890 ein weiteres Hundert an Aphorismen aufgenommen hat.

[3] Ein Beispiel (gemäß S. 17, Anm. 52): „Wer nichts weiß, muß alles glauben.“: Erstdruck 1880, vorhanden 1884 bis 1890, fehlend 1901, 1906 wieder aufgenommen, fehlt ab 1911.

 

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