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Elisabeth Turvold über:
Martin Liechti: Wege und Nebenwege. Aphorismen + Notate. Düsseldorf: Edition Virgines 2024.

 

Schon bevor man den neuen Band des Schweizer Autors Martin Liechti (geb. 1937) aufgeschlagen hat, lässt das Titelbild – es stammt vom flämischen Maler Jos de Mey – erahnen: Die „Wege und Nebenwege“ führen über etwas hinweg und hinaus, fluchten – von wo kommend? und wohin führend? Hatte Paul Klee eines seiner unter Kunstbeflissenen bekannten Gemälde „Hauptweg und Nebenwege“ (1929) genannt, gibt es bei Liechti nicht den einen Hauptweg, jedenfalls keinen programmatischen. Dennoch, es gibt Schwerpunkte: Altern und Tod, künstlerisches Scheitern, Technik und KI. Dazwischen finden sich – um im Bild zu bleiben – Nebenwege, Passagen mit kleinen geistreichen Sätzen, die sehr zur Themenvielfalt beitragen. Typischerweise für seine Kurzprosa strukturieren alphabetisch geordnete Überschriften die Sätze – in diesem Band reicht die Spanne von „Abirren“ bis „Zielgerecht“. Durch die Vorabstrukturierung wird es dem Verfasser wie auch uns Lesenden möglich, sich frei und assoziativ innerhalb der einzelnen Themenwelten zu bewegen.

Schauen wir genauer hin, zunächst auf die größeren Wege, Liechtis Schwerpunktthemen! Altern und Tod durchziehen den Band geradezu leitmotivisch: „Vorboten des Alters / Das Ungeschehene belastet dich mehr als das Geschehene“ (S. 54) – „Das Alter / Lange betraf es die anderen, nun also dich. Du hältst stand, angeschlagen. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf“ (S. 55). Auf Seite 84f. findet sich ein ganzes Kapitel unter der Überschrift „Tod“, in welchem das Ende tendenziell klein- bzw. schöngedacht wird: „Der Tod ist eine lästige Störung, ein Stolpern, ein unsinniger Riss zur Unzeit, sagte er“ (S. 84) – „Danach / Wäre es nicht schön, irgendwann wieder hineinzuschlüpfen in sein oder ein anderes Leben?“ (S. 85) Liechti arbeitet sich an dem Themenkreis Altern und Tod ab und lässt uns mit einer, wenn nicht lösbaren, so doch recht originell gestellten Frage zurück: „Offenes / Verbraucht uns das Leben oder wachsen wir daran?“ (S. 69)

Einem ähnlichen Weg folgt sein zweites Schwerpunktthema, das Scheitern: „Aussichtslos die eigene Profilierung angesichts der Weltfülle“ (S. 30) – „Noch hilfst du dir. Doch du schwächelst. Gnade dir Gott!“ (S. 32) Es dominiert die Aura des enttäuschten, abgehängten, alternden Schriftstellers. Dagegen stellt er an anderer Stelle den Humor: „‚Persönliches‘ / Bin eitel genug, mich als den unbekanntesten Schriftsteller der Schweiz zu betrachten.“ (S. 83)

Äußerst kritisch stellt er sich zur Durchdringung der Welt durch die fortschreitende Technik, nicht nur in diesem Band. Hier führen viele, wenn auch nicht alle Wege zur KI: „In den Fokus unseres Weltbildes rückt immer mehr das Transhumane. Wir schaffen uns selber ab“ (S. 37) – „Bald werden wir so bequem leben, dass es uns nicht mehr braucht“ (S. 5) – „Das Verborgene nimmt ab, die Oberfläche gewinnt Oberhand, dem Internet sei Dank. Jeder lehnt sich nach außen, offen liegen die Gemüter“ (S. 114). Das Problem beginnt mit den „Tools“: „Hilfsmittel bleiben Hilfsmittel, auch wenn sie uns noch so raffiniert unter die Arme greifen. Instrumente, die uns nicht erdrücken sollen.“ (S. 41) Liechtis vielleicht ernüchterndste Einsicht: „Gefangen im Wirklichkeitsverlust halten wir uns an Schemen fest.“ (S. 58)

Werfen wir noch einen Blick auf die aphoristischen Nebenwege, auf denen sich die kleinen geistreichen Sätze zu ganz unterschiedlichen Themen tummeln, Sätze, die immer wieder zum Ausscheren einladen: „Du klammerst dich an oben und unten – und verflachst“ (S. 16) – „Alles, was ich von der Welt erwarte, ist, dass sie mir zunickt“ (S. 48) – „Die Engel haben die Flügel nach innen gefaltet und streiken“ (S. 66) – „Du bist der Deckel, der nicht auf dich passt“ (S. 93) – „Der Stolz ist der Schwanz, der mit dir wedelt“ (S. 114). Diese Sätze sind wie Straßenkuppen, die der aphoristische Altmeister Liechti mit Leichtigkeit überwindet. Die Senken sollen hier allerdings auch nicht ganz verschwiegen werden. Es gibt ‚Binsenweisheiten‘, die auf dem Weg zu kunstvolleren Sätzen liegen, so „Warum fliegen die Gedanken und gehen nicht zu Fuß?“ (S. 34) – „Hoch ist unsere Meinung von uns, bevor wir fallen“ (S. 53) (Dachte hier jemand an das Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“?) – „Nichtiges / Vieles, was uns viel bedeutet, erweist sich später als nichtig“ (S. 91).

Klappen wir das Buch zu und schauen wieder auf das Bild von Jos de Mey, strebt es immer noch von uns weg. Die Fragen: von wo kommend? und wohin führend? haben eine Wanderung hinter sich, und der Weg ist nicht das Ziel; wir wollen mehr: „In die Antwort hineinleben, ein Satz von Rilke. Doch wer hat so viel Langmut, eine Lebensfrage auszusitzen, in die Antwort hineinzuwachsen?“ (S. 70) Martin Liechti legt uns diesen Langmut nahe. Wer sich mit ihm auf die „Wege und Nebenwege“ begibt, wird mit zahlreichen Denkanstößen und mit Kurzprosa von teils lyrischer Intensität („Stimmungen“, S. 81f.) belohnt.

 

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