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Friedemann Spicker über:
Miguel Herz-Kestranek: Gedankenflügge. Aphorismen. Wien: Ibera 2022.

 

Der Schauspieler, Kabarettist, Sänger und Autor Miguel Herz-Kestranek steht in der dicht besetzten Traditionslinie einer (jüdisch)-österreichischen Aphoristik, oft verbunden mit kritisch-satirischer Publizistik in Feuilleton und Kabarett, die mit älteren Autoren wie Alfred Polgar (geb. 1873), Egon Friedell (geb. 1878) oder Anton Kuh (geb. 1890) – im Hintergrund Karl Kraus mit seiner weitestreichenden Wirkung –, weiter mit Felix Pollak (geb. 1909), Hans Weigel (geb. 1908) oder Arthur Feldmann (geb. 1928) ins Exil führt (von den großen Namen wie Elias Canetti [geb. 1905], Erwin Chargaff [geb. 1905] oder Elazar Benyoëtz [geb. 1937; er gelangt mit den Eltern ins Exil] zu schweigen). Bei Werner Schneyder (geb. 1939) knüpft man seit den siebziger Jahren wieder an diese Linie an.

Und eben auch bei Herz-Kestranek. Er ist 1948 als Sohn von Eltern, die sich im jüdischen Exil in Südamerika kennenlernten, in der Schweiz geboren. Die klassische Einsatz-Form ist in dieser Tradition vorgegeben, die Muster stehen bereit. Die Muster: das bezieht sich auf syntaktische Modelle wie „Es gibt…, die…“, den Relativsatz („Wer…, der…“), den Vergleichssatz mit der Doppelkonjunktion „Je… desto…“ oder auch die aphoristische Definition, Gattungsspezifisches wie Phraseologismen, das Wörtlichnehmen von Redensarten oder Wellerismen, und es umfasst die rhetorischen Mittel von der Paradoxie bis zur Paronomasie. All das ist in unserer Rezensionsreihe immer wieder zur Genüge vorgeführt worden. Es soll hier nur exemplarisch vorgestellt werden. Die entscheidende Frage dabei ist: Kann der Autor diese verschiedenartigen Muster so erfüllen, dass man seine eigene Signatur erkennt? Um es vorweg zu sagen: Das gelingt von Fall zu Fall unterschiedlich und ist von dieser Differenz her zu beschreiben.

Die aphoristische Frage kommt einerseits nicht über den Kalauer hinaus: „Herrschte im Hause Goethes das Faustrecht?“ (22) Andererseits ist sie im besten Sinne geeignet, Denkräume zu öffnen: „Was hilft es, Grenzen zu öffnen, wenn die Überzeugungen geschlossen bleiben?“ (12) Der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec ist da allerdings manchmal allzu deutlich im Hinter­grund: „Viele reine Gewissen wurden nie benutzt.“ (25) (Lec: „Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.“) Einerseits tummeln sich die Aphoristiker in so großer Zahl „zwischen den Stühlen“ (11), dass da kein Platz mehr sein sollte, andererseits weiß Herz-Kestranek die Kontraktionstechnik nach dem Muster von Karl Kraus („Unterleibeigenschaft“) ebenso wirkungsvoll einzusetzen („Scheinhei­ligsprechungsprozess“, 42) wie den Neologismus (zurückheucheln, 39, wegpaktieren, 64). Einer­seits kann die Parodie ihre Geburt aus dem Tagesgeschäft des Kabaretts nicht verleugnen: „Komm Herr Jesus, sei unser Gast und siehe [segne], was du uns bescheret hast.“ (29) Andererseits verraten solche Verfahren doch noch einmal hohe Schule: so in der Zitatabwandlung („Hoffnung ist Opium fürs Volk.“, 17), so in der Dehnung der Grammatik („die gleicheren“, 27), so wenn er sie bis zu feinster interpunktioneller Änderung treibt: „Der Kapitän dachte an sich, selbst zuletzt.“ (34), selbst im Wortspiel: „Bei Tisch wie im Leben: Zum Reichen gehören immer Arme.“ (17) Einerseits kann man die Kürze für überzogen halten: „Kunst ist Definition.“ (13), andererseits ist sie eindeutig denkanregend nicht-explizit: „Stalin war, Hitler ist.“ (9) Eine Einsicht wie diese ist wahrlich nicht neu: „Exilanten, die wiederkehren, verlieren die Heimat zum zweiten Mal.“ (13), aber sie ist mit Lebenserfahrung hinterlegt. Und dann sind da (in der Unterzahl zwar) die Aphorismen, die ohne jeden rhetorischen Prunk auftreten, aber durch ihre Assoziationsweite sofort herausragen: „Stille führt über Klarheit zur Freiheit.“ (41)

Die Themen sind nicht neu, weder Jugend und Alter („Jeder fühlt sich plötzlich alt, niemand endlich.“, 23) noch, fast obsessiv abgehandelt, Wahrheit und Lüge. Dass Herz-Kestranek sich an den Medien reibt und eine regelrechte Politiker-Allergie hat, versteht sich fast von selbst und ist Aphorismenleser(inne)n seit den Tagen von Kraus vertraut. Aber: Anlässe dafür, so wachsam und dabei kreativ zu sein wie er, insbesondere bei den Themen Österreich und Judentum, gibt es leider mehr und mehr. Deshalb gebührt dem österreichischen Autor jenseits formaler Einzelkritik Dank.

 

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