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Jürgen Wilbert über:
Oskar Ansull: Nebensaetzliches – Gedankenspäne & Wortfindungen. Hannover: Wehrhahn 2022.

 

Oskar Ansull (eigentlich Uwe Quast, geboren 1950 in Celle) ist Schriftsteller, Herausgeber und Rezitator. Neben seinen Veröffentlichungen insbesondere von Lyrik hat er zahlreiche Leseprogramme und Rundfunksendungen produziert. Nach „Papierstreifen“ (Berlin 2013 und als neue, erweiterte Ausgabe, erschienen 2020 in Hannover) legt der Autor 2022 mit diesem Buch eine Sammlung von eigenen Kurzprosatexten vor. Laut Klappentext umfasst es „Neben Gedankenspänen, Kurzdialogen, gereimten wie ungereimten Losen Strophen (eine) Hommage an Christian Morgenstern […]“.

In meiner Buchbesprechung werde ich mich vorzugsweise auf die ersten beiden Kapitel konzentrieren, die wie folgt überschrieben sind: GEDANKENSPÄNE & WORTFINDUNGEN sowie WORTWECHSEL / KURZDIALOGE. Im Vorwort (S. 11-13) erläutert Ansull die Ableitungen des Begriffs SPÄNE. Darin verweist er auf das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm, die bereits den Bezug zu Aphorismen herstellen. Im Folgenden bezieht sich der Autor ausdrücklich auf Aussagen solch aphoristischer „Schwergewichte“ wie Lichtenberg, Nietzsche, Kraus und Cioran und kommt schließlich zu dieser Schlussfolgerung: „Ob nun Notate, Splitter, Bonmots, Blüten, Fallobst, gekämmte oder unfrisierte Gedanken, Aphorismen, Narrenkrümel … zusammengenommen erscheinen sie, nach einer schönen Wendung des ersten deutschen Professors für Experimentalphysik Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) als „Eine ganze Milchstraße voller Einfälle.“ So geht es ihm auch in seiner Kurzprosa darum, etwas zündend auf den Punkt zu bringen, wörtlich: „ Es zielt stets auf den geglückten Satz, gar Sprengsatz ab, auf Mehrdeutigkeit und Ambivalenzen.“ (13)

Das Kapitel mit Aphorismen im engeren Sinne trägt den originellen Untertitel 40 dosierte Verschreibungen à 7 gemischte Späne pro Seite. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit Ansull seinen eigenen Ansprüchen an „aufblitzender Sprach- und Sprechlust“ (13) sowie an Sprengkraft gerecht wird. Dies ist an einigen Stellen durchaus der Fall, etwa auf S. 17: „Wer alles überblickt, übersieht manches.“ / „Die Masken wechseln und bei sich bleiben.“ Oder „Er wollte ein Kind seiner Zeit sein und blieb doch nur Kind seiner Eltern.“ (18) Bisweilen jedoch bleiben die „Denkspäne“ etwas stumpf, m. a. W. harmlos bzw. rein wortwitzig: „Ein Mann, ein Wort. Viel mehr sagt er zumeist ohnehin nicht.“ (18) / „Zahncreme DECADENT – zynisch getestet.“ (23) Viele seiner Kurztexte gehen mehr in Richtung Kalauer, wie hier zum Beispiel: „Duschgel, für Haut und Harem geeignet.“ (30) Und: „Er war ein Glückspilz, aber ein giftiger.“ (24) Überzeugend hingegen sind manche seiner Wortneuschöpfungen, Ansull nennt sie „Wortfindungen“: „Wiederholte Weihnachtsansprachlosigkeiten.“ (19) / „Lachmuskelfaserriss“. (28)

Der Autor beherrscht auch die Variation von Redewendungen: „Totengräber nehmen den Tod auf die Schippe.“ (30) / „Liebe in Zeiten von Text & Corona.“ (34) Gelungen ist auch dieser Neologismus in Frageform „Naht uns die Wozukunft?“ (45) Die folgende kreative wie gesellschaftskritische, ja bissige Wortfindung „Germanisch depressiv sein.“ (33) findet sich übrigens bereits als Titel in einem Kabarettprogramm von Lutz von Rosenberg-Lipinsky. (Siehe www.von-rosenberg-lipinsky.de) Auch die Wendung „Erst Menschen totschlagen und dann die Zeit“ (38) wird in abgewandelter Form schon in einem Text von Erich Fried verwendet: Totschlagen / Erst die Zeit / Dann die Fliege / Vielleicht eine Maus / Dann möglichst viele Menschen / Dann wieder die Zeit. (Vergleiche www.zitate.eu/autor/erich-fried-zitate)

Insgesamt überwiegt im ersten Kapitel (S. 17-56) der eher wortspielerische Akzent in dieser Art und Weise: „Die einen sind arm selig, andere nur armselig.“ (56) / „Fleischlos: Vorgeschmack aufs Skelett, das wir sein werden.“ (55) Oder gar als gereimter Nonsens: „Die letzten Dinge regelt Inge.“ (51) Demgegenüber ragen solche gesellschaftskritisch paradoxen Notate heraus: „Eine mit Lügen unterfütterte Wahrheit“ (55) / „In der Tiefe der Oberfläche ertrinken.“ (53)

Im Abschnitt der Kurzdialoge setzt sich dieser Zwiespalt zwischen philosophisch ernsthafter und lediglich wortwitziger Kurzprosa fort. Die enorme Spannbreite sei an diesen Texten exemplarisch verdeutlicht: „Ernährung / A: Alles ist eine Frage der Ernährung. / B: Ja, ja. Und? / A: Heute schon Schwein gehabt?“ (75) / „Was tun? / A: Was ist? / Da steht noch eine Frage im Raum. / A: Dann bringen Sie ihr einen Stuhl.“ (79) Bewegen sich diese phraseologischen Beispiele noch im Bereich der Situationskomik, so stellt der folgende Text – ungeachtet des Wortspiels in der Überschrift – aufgrund seiner Antithetik zweifellos einen ernsthaften Denkanstoß dar: „Das Lü Gen / Ich bin die Wahrheit / sagt die Lüge. / Ich bin die Lüge / sagt die Wahrheit. / Not lehrt lügen.“ (91)

In den weiteren Teilen des Buches dominieren eindeutig die Reime in bewusster Anspielung auf Busch, Mörike, Rilke und Morgenstern; doch immer wieder finden sich dazwischen auch kurze aphoristische „Perlen“, wie etwa auf S. 98: „Na also / Dass sie nichts / von allem nichts/ gewusst haben / das wussten sie / genau.“ So auch in den „HIGHWAY LYRICS“ von Lina Gall (seinem Pseudonym): „prayer / meine tägliche / hochgeschwindigkeitsdosis / gib mir heute“ (149) / „stauwarnung / rechts zeitig raus / aussteigen & sich / selbst überholen / der weg ist das ziel / ankommen wird / überschätzt“ (152) / „befund / entzündet die / höchst empfindliche autobahnnetzhaut“ (186). Und schließlich der originelle, anspielungsreiche Neologismus im Titel des Textes „´s ist krieg oder automobilmachung“ (161).

Insgesamt hätte ich mir noch etwas mehr aphoristisch geglückte Sprengsätze gewünscht; doch alles in allem ist die im Titel des Bandes und im Ankündigungstext geweckte Erwartung nicht enttäuscht worden; die „Sprach- und Sprechlust“ (13) des Autors blitzt im Verlaufe der über 200 Seiten vielfach auf. Es gilt abschließend festzuhalten, dass es sich schließlich nicht um ein reines Aphorismenbuch handelt, sondern vielmehr, wie im Vorwort „Anbei notiert“ (11) und im Klappentext angekündigt, um ein „hintersinniges, poetisches, heiteres wie auch bissiges Buch, in dem sich mit Sprachgewinn blättern lässt.“

 

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