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Jürgen Wilbert zu: „Die schönsten deutschen Aphorismen“,
hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Philip Kovce, 2019 im Insel Verlag Berlin erschienen (Insel-Bücherei Nr. 1461)

Vor einigen Wochen ist im Insel Verlag eine neue Aphorismen-Anthologie erschienen; sie trägt den vollmundigen Titel „Die schönsten deutschen Aphorismen“. Herausgeber ist Philip Kovce (geboren 1986), der am Basler Philosophicum und an der Universität Witten-Herdecke tätig ist. Er schreibt selbst Aphorismen und ist den Verantwortlichen von DAphA kein Unbekannter, hat er doch vor Jahren auch an einem unserer Aphoristikertreffen teilgenommen. Es sind bereits zwei Aphorismenbände von ihm erschienen: „Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall“ (2015) und „Ich setze Ich-Sätze“ (2016).

Der Titel des neuen Bändchens trägt mit dem Superlativ „…schönsten…“ eher den merkantilen Zielen der Marketingabteilung des Verlags Rechnung als der satirisch-kritischen Note der kurzen Gattung. Der Herausgeber bezeichnet seine Sammlung im Nachwort selbst als „Blütenlese“; und dieser Charakter wird durch das mit Merian-Blumen verzierte Cover gleichsam untermalt. Es handelt sich um eine recht „eigenwillige Auswahl“ (Nachwort auf S. 82). Durch diese Texte von 36 Autoren hat sich Kovce „auf diese oder jene Weise getroffen“ gefühlt. (S. 82) Diese Weisen für seine subjektive Auswahl werden jedoch nicht weiter erläutert. Waghalsig finde ich diese Behauptung von ihm, „dass damit zugleich ein historischer Längs- und thematischer Querschnitt vorliegt“ (S. 82). Wie soll / kann so etwas Strukturiertes aus einer derart subjektiven, beliebigen und zudem noch schmalen Auswahl überhaupt entstehen? Es findet sich übrigens kein Hinweis auf andere, systematisch angelegte Anthologien wie etwa die von Fieguth „Deutsche Aphorismen“ (Stuttgart: Reclam 1994) und die 2012 bei Reclam erschienene Auswahl „Deutsche Aphorismen“, die von F. Spicker herausgegeben wurde.

Durchweg bleibt bei der Lektüre der rhapsodische Eindruck der willkürlichen, Auswahl erhalten. Dies betrifft auch die Auswahl der jeweiligen „schönsten“ Einzelaphorismen. So vermisse ich beispielsweise bei Jean Paul dessen prägnante Definition des Aphorismus: „Sprachkürze gibt Denkweite“.

Was man dem Bändchen keineswegs absprechen kann, ist seine „motivische und stilistische Vielfalt.“ (S. 82) Für den Leser jedoch ist ärgerlich, dass der Herausgeber kein Wort über das hochtrabende Auswahlkriterum im Titel, den Begriff „schön“ verliert. Was soll denn die „schönsten Aphorismen“ auszeichnen? Handelt es sich eher um gedanklich-inhaltliche oder sprachlich-stilistische Qualitäten? Es geht hier wohl in erster Linie um die Verlockung eines ungetrübten Verschenk- und / oder Lesevergnügens wie bei anderen solchen Spruch- und Weisheitsbändchen auch, vgl. etwa das Reclam-Bändchen „Für alle Lebenslagen. Kleine Weisheiten (Stuttgart 2008), hrsg. von Evelyne Polt-und Christine Schmidjell.

Wozu dient eigentlich vorab der themenbezogene Mottoaphorismus von Peter Handke über die Liebe? Hier wäre m. E. zur gattungsspezifischen Einstimmung eher die Auswahl der „Aphorismen über Aphorismen“ angebracht.

Bei der Auswahl der Autoren / Autorinnen hat sich Kovce weitestgehend vom bestehenden Kanon der Aphoristik leiten lassen; keine Frage, Lichtenberg, Goethe, Seume, Jean Paul, Schlegel, Novalis, Hebbel, Nietzsche, Schnitzler, Morgenstern, Hofmannsthal, Kraus, Kafka, Tucholsky, Jünger und Canetti sind hier unbestritten. Doch wieso fehlen Börne, Brecht und Adorno? Für mich nicht nachzuvollziehen ist auch die Entscheidung für Gabriel Laub. Hier hätte eher Stanislaw Jerzy Lec einen Platz verdient. Was macht beispielsweise diesen tautologischen Satz von Laub zu einem der „schönsten Aphorismen“? „Wer etwas verstehen will, muss verstehen wollen.“

Erfreulich hervorzuheben ist, dass der Herausgeber mit Varnhagen, von Ebner-Eschenbach, Mayreder drei bedeutende Aphoristikerinnen aufgenommen hat.

Besonders heikel und umstritten stellt sich naturgemäß die Begründung bei der Auswahl der Gegenwartsaphoristiker dar. Hier sei nur auf die Anthologie von Eilers und Grüterich „Neue Deutsche Aphorismen“ (Edition Azur: Dresden) verwiesen. Und ob sich einige der aufgenommenen eher gesellschaftskritisch und philosophisch ausgerichteten Autoren wie Benyoetz, Seel, Sloterdijk und Steffens (hier kommt übrigens keine Frau mehr vor) darüber freuen, dass ihre ausgewählten Aphorismen zu den „schönsten“ gezählt werden, möchte ich bezweifeln.

Kurzum: ein weiteres Bändchen mit mehr oder minder erbaulichen Lebensweisheiten / Gedankensplittern ist in der Welt, das wieder mal mehr Fragen aufwirft als es beantwortet. Aber das ist schließlich ja auch ein Wesensmerkmal des Aphorismus.

JWD, Düsseldorf, 15.10.2019

 

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