zurück zur Übersicht der Rezensionen

 

Jürgen Wilbert über:
Philip Kovce: Wenn alles gesagt ist, beginnt das Gespräch. Aphorismen. Basel: Futurum 2023

 

Philip Kovce, geboren 1986, Ökonom und Philosoph, legt hier seinen zweiten Aphorismenband vor. Er forscht an der Universität Freiburg sowie am Basler Philosophicum. Zudem gehört er dem „Think Tank 30 des Club of Rome“ an und schreibt als freier Autor für Presse und Rundfunk. 2015, ebenfalls im Futurum Verlag, ist bereits sein Erstling erschienen: „Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall“. Auf der Rückseite des Buchumschlags wird die generelle Intention des Autors erläutert: „In prägnanter Form thematisiert der Autor die Frage nach dem, was unser Menschsein ausmacht. Es geht um Selbstgefälligkeiten und Selbsterkenntnis, um Wahrheiten und Widersprüche, (…) vor allem aber um unsere eigene Haltung und Entschiedenheit.“ Kurzum und vorab: Das Buch ist zentral von einem philosophischen Erkenntniswillen durchdrungen. Demzufolge ist es in der Leserschaft in besonderer Weise auf „Erkenntniswillige“ angewiesen. Schon in seinem ersten Band verwies er darauf, dass sich der Aphorismus „als literarisch-philosophische Königsdisziplin“ (Klappentext) erweist.

Das blaue Hard-Cover-Buch mit gelbem Lesebändchen beinhaltet auf 110 Seiten rund 300 Aphorismen, die jeweils mit drei auf jeder Seite übersichtlich, also auch lesefreundlich angeordnet sind. Sie sind laut Vorbemerkung (7) im Zeitraum von April 2013 bis Dezember 2022 entstanden. Durchgängig sind es die gattungsüblichen Stilmittel, die der Autor versiert einsetzt. Es überwiegen die definitorischen und widersprüchlichen Behauptungen bzw. Umschreibungen, wobei auffallend häufig das Konstruktionsprinzip des Widerspruchs Verwendung findet. Hier nur wenige Beispiele: Nimm jede Erleichterung an, die dir hilft, das Schwere zu tun. (11) / Scheinriesen fürchten sich vor Scheinzwergen. (16) / Nicht seine Schatten vorauswerfen, sondern sein Licht. (62) Dies sind im Grunde genommen eher selbst-evidente Textbeispiele, die die Neigung zum Abnicken in sich tragen. Das gilt auch für den Satz: Alles Gute kann man auch schlecht machen. (109) Oder auch für das Bonmot: Geisteswissenschaftler ohne Esprit sind besonders geistlos. (20)

Demgegenüber gibt es eine Reihe von Aphorismen, die sich dem/der Lesenden nur schwer erschließen, so u. a. dieser Aphorismus in Frageform: Warum halten wir, was die Nacht uns schenkt, dem Tag zugute? (19). Auch der in sich paradoxe Titel-Aphorismus: Wenn alles gesagt ist, beginnt das Gespräch wirft mehr Fragen auf als Antworten. Um was für ein Gespräch handelt es sich? Ist es bloß floskelhaftes Gerede? Wer setzt dem Gespräch ein Ende? Bei wem wird es wie fortgesetzt? Bei der Häufung solch konträrer, ja paradoxer Aphorismen kann der Eindruck des bloß Konstruierten entstehen, wenn der Satz auch nach längerer Auseinandersetzung beim Rezipienten keinen Erkenntnisgewinn nach sich zieht. Dies gilt auch für das folgende, etwas abgehobene Textbeispiel: Freundschaft gründet sich auf das Sein, nicht auf das Dasein der Freunde. (62)

Auf die bei Aphoristikern beliebte „Wer …– der…“ –Satzstruktur greift auch Kovce häufiger zurück: Wer auf sich selbst hereinfällt, kommt sich auf die Schliche. (79) / Wer sich beim Wort nimmt, macht sich einen Namen. (24) / Wer bei sich ist, ist nicht allein. (105) / Wer neben sich steht, tritt seinem Nachbarn auf die Füße. (107) Für ihn sind Aphorismen „Gedankenspielplätze“, im ersten Band nennt er sie „Wortspielgefährten“; sie verlangen somit aktive, spielfreudige Lesende, die die Denkanstöße „so drehen und wenden, dass sie (…) auch einleuchten können.“ (Klappentext) Bisweilen leuchten einige der aphoristischen Definitionen bzw. Umschreibungen jedoch auch nach längerem „Drehen und Wenden“ nicht ein, wie meines Erachtens in diesen Fällen: Das feminine Gute: die Güte. (13) Hier handelt es sich eher um eine witziges, aber inhaltsleeres Wortspiel. (Güte ist doch nicht nur Frauen vorbehalten.) Oder: Der Weg der Wahrheit ist sie selbst. Sie kommt im Gehen, sie geht im Stehen. (20) Dies liest sich zwar tiefsinnig-paradox, doch handelt es sich bei genauerer Betrachtung nicht eher um das Resultat von Formulierungskunst (in diesem Falle in Gestalt eines Chiasmus)?

Das Stilmittel der Metaphorik spielt bei Kovce ebenfalls eine Rolle. Man beachte u. a. diese bildhaften Aphorismen: Kreisende Gedanken – Adleraugen des Geistes. (9) / Akademiker, die Wahrheiten wie belegte Brötchen verkaufen, kaschieren, dass die Wahrheit stets unbelegt daherkommt. (16) Ist das nicht ein unpassendes, eher schiefes Bild? Und stimmt das überhaupt: Ist Wahrheit stets „unbelegt“, also unbewiesen? Auch der folgende bildhafte Vergleich scheint mir etwas weit hergeholt: Das Paradies als Gefängnis: Die Erkenntnis ist an einen Baum gefesselt. (24)

Im Band finden wir ferner diverse mehr oder minder originelle und entlarvende Einwort-Aphorismen bzw. Paragramme wie etwa: Autodiplomatie (47), Wimpern-Doppelklick (53), Sonnenaufgangserleuchtung (54), Verstellungsrunden (64), Geistesgegenwartskunst (110). Hier überzeugen vor allem die beiden letzten Beispiele.

Der humorvolle, vornehmlich spielerische Umgang mit Sprache kommt meiner Einschätzung nach bei Kovce, entgegen der eigenen Absichtserklärung, etwas zu kurz. Es dominieren die schwergewichtigen philosophischen Texte; und diese kommen dann bisweilen hermetisch oder gar hochtrabend daher, wie zum Beispiel in diesem Fall: Das Privileg verhinderter Potenzialentfaltung: nicht an seine Grenzen stoßen. (49) Mir gefallen seine Texte dann am besten, wenn sie nicht zu philosophisch ambitioniert oder aufgeladen auftreten. Dazu zählen diese Aphorismen: Das Naheliegende steht uns erst noch bevor. (13) (wegen des Verblüffungseffekts) / Wer nicht gebraucht wird, wird beschäftigt. (16) (wegen der Gesellschaftskritik) / Wovon einer absieht, das lenkt seinen Blick. (26) / Jeder Mensch ist seine Interpretation der Individualität. (59) Und nicht zuletzt (ebenfalls wegen der konkreten, sozialen Alltagstauglichkeit): Wer sich aufbläst, nimmt anderen die Luft zum Atmen. (99)

Dieser aphoristische Kommentar Kovces könnte schließlich als selbstkritische Einschätzung des eigenen Motivs für das Schreiben gelesen werden: Ich schreibe etwas auf, von dem ich weiß, dass ich es besser verstehen müsste, um dafür bürgen zu können. Ich schreibe es auf als Aufgabe – als Anlass, mich besser zu verstehen. (76) Über diese Selbstvergewisserung hinaus bieten Kovces „Gedankenspielplätze“ aber auch dem Leser / der Leserin genügend Möglichkeiten oder auch „Zündstoff“, sich mit drängenden, existenziellen Fragen des Menschseins – wie Wahrheit und Lüge, Leben und Tod, Gutes und Böses – tiefergehend auseinanderzusetzen. Dies wird allerdings nicht gehen, ohne sich der Anstrengung des Nach- und Selbstdenkens zu unterziehen. Kovces zweiter Aphorismenband ist fürwahr keine leichte Lektüre, aber eine lohnenswerte. Vielleicht können diese beiden Aphorismen zum Abschluss ja als Ansporn dienen: Wir überfordern uns mit Unterforderungen. (93) Und (sorry) in eigener Abwandlung des Titel-Aphorismus: Wenn alles gelesen ist, beginnt die Lektüre.

 

zurück zur Übersicht der Rezensionen