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Jürgen Wilbert über:
Sascha Heße: Pralinen mit Menschengeist – Aphorismen. Berlin: Parodos Verlag 2025
Sascha Heße, geboren 1976 in Magdeburg, ist in der gegenwärtigen Aphoristik kein Unbekannter; er hat bereits seit 2006 zehn aphoristische Bücher veröffentlicht und beherrscht die Klaviatur des aphoristischen Schreibens in all seinen Facetten. Er lebt und arbeitet als Schriftsteller, Komponist und Musikpädagoge in Leipzig. In der Bestandsaufnahme „Deutsche Aphoristik der Gegenwart“ aus dem Jahr 2023, hrsg. von F. Spicker & J. Wilbert, ist er auch mit einer Auswahl seiner Aphorismen vertreten (S. 291-294). In diesem Band geht er auch auf die Frage ein „Warum heute Aphorismen schreiben?“ Seinen Hang zur Kurzform erklärt er so: „ … es ist vor allem die Lust daran, sich aufs Detail zu konzentrieren, einen kleinen, überschaubaren Sprach-Edelstein vor sich zu haben, den man in aller Ruhe schleifen kann …“ (S. 296)
Im handlichen neuen Bändchen (Taschenformat 17×10 cm / 65 Seiten) beschreibt er wie folgt die „Methode des Aphoristikers: Sich selbst die Worte im Mund umdrehen.“ (52) Der ungewöhnliche Titel „Pralinen mit Menschengeist“ ruft diese ebenfalls süßen aphoristischen Definitionen in Erinnerung: „Kopfkonfekt“ (Rupert Schützbach) und „ … kandierte Früchte vom Baum der Erkenntnis.“ (Helmar Nahr). Zugleich möchte man aber auch mit Robert Musil warnen: „Ein guter Aphorismus soll auf der Zunge zergehen wie ein Bonbon – und weg ist er! So nach üblicher Auffassung.“ Wir werden sehen, wie „die Verkostung der in diesem Buch offerierten Pralinen“ schmeckt. Ein erster Blick ins Büchlein zeigt, dass der Autor bei den immerhin über 300 Kurztexten keine thematische Strukturierung vorgenommen hat; man sollte daher dosiert an die „Verkostung“ herangehen, um sich nicht „den Magen zu verderben“.
Die Texte variieren nicht nur inhaltlich, sondern wechseln auch ständig zwischen Wortspiel und Reflexion. Dies möchte ich im Folgenden an einigen Beispielen belegen. Gleich auf Seite 7 finden sich diese ganz unterschiedlich anspruchsvollen Aphorismen: „Was wir in Worte kleiden, steht danach gekleidet – oder verkleidet da.“ – „Warum ihm so sterbenslangweilig war? – Er hatte sich zu viel Zeit fürs Leben genommen!“ Der erste Satz kommt doch recht beiläufig daher, während der zweite dialogisch gefasste Er-Aphorismus eine ernsthafte Lebenserfahrung paradox thematisiert. Demgegenüber fällt dieser Ausspruch wieder erheblich ins Banale ab: „Das Kleinkarierte findet sich bei vielen erst auf der Unterwäsche.“ (8) Ähnlich selbstredend ist dieser Wer-Aphorismus: „Wer den Ruhestand nicht fleißig übt, gerät in Gefahr, vom nachfolgenden Stillstand überfordert zu werden.“ (9)
Am stärksten sind Heßes Aphorismen, wenn sie sich mit den Themen der Selbsterkenntnis, Fremdwahrnehmung und Identität auseinandersetzen, wie hier zum Beispiel: „Es braucht die eigene Gedankenlosigkeit, um die der anderen nicht zu bemerken.“ (10) / „Er sammelt eine besondere Art von Masken: die verlorenen Gesichter der anderen.“ (13) / „Zu den eigenen Schwächen zu stehen, ist die eine Aufgabe; die andere ist, den eigenen Stärken nicht zu erliegen.“ (30) Besonders prägnant ist dieser Aphorismus: „Identität – der Name unseres Lieblingskostüms.“ (56)
Auffällig ist, wie häufig Heße Redewendungen aphoristisch variiert, hier mögen einige mehr oder weniger originelle als Beleg dienen: „Der Kopf ist meist vorgeschädigt, mit dem einer durch die Wand will.“ ( 37) / „Es soll Dreckskerle geben, die völlig mit sich im Reinen sind.“ (41) / „Gescheiterter Architekt: Schon als Kind hatte er eine Burg nach der anderen in den Sand gesetzt.“(24) / „Wer verstimmt ist, sollte nicht den Ton angeben.“ (59) / Und in Frageform: „Warum schicken wir immer gerade die zur Hölle, die uns anhimmeln.?“ (26)
Der Autor spielt sehr gerne mit Gegensatzpaaren, um den Worten dann eine andere, tiefere Bedeutung abzuringen; Heße geht sozusagen den Worten auf den Grund: „Wir erinnern uns noch lange daran, wie es war, uns vergessen zu haben.“ (37) / „Lärm um nichts – Stille um alles.“ (62) / „Wir finden manches gerade dort, wo wir nichts verloren haben.“ (64) Bisweilen treibt er die Wortspielerei aber auch auf die Spitze: „Verticken wir nicht unser Urvertrauen, wenn wir nur noch unserer Uhr vertrauen?“ (30) / „Es gibt Gedankenlose – und solche, die die Gedanken los sind.“ (34) Dies sind zweifellos die kreativen Resultate eines lebhaften Spaßes am Wortjonglieren, Wortverdrehen.
Der Autor ist auch kein Verächter des Kalauers, wie diese reinen Wortwitze zeigen: „Gerade Schönheit führt oft zu Miss-Erfolg.“ (55) / „Sie lässt sich bereitwillig von einem Mann einwickeln, um sich hernach noch bereitwilliger von ihm auswickeln zu lassen.“ (48) / „Gibt einer seinen Senf dazu, findet sich meist auch ein Würstchen, das ihn dankbar entgegennimmt.“ (43) Zugegeben, solche witzigen Texte können wegen ihres Schmunzelfaktors die Lektüre eines vollgepackten Aphorismen-Bändchens erleichtern, dennoch trüben sie insgesamt doch das Niveau der Publikation, zumal wenn sich der Kalauer wie hier auch noch auf eine mehr als abgenutzte Situation bezieht. „ An ihrem heimkehrenden Mann konnte sie Nacht für Nacht ihr blaues Wunder erleben.“ (33)
Um den Gesamteindruck dieses neuen Bändchens jedoch wieder geradezurücken, seien zum Schluss einige „Sprach-Edelsteine“ oder auch „Pralinen“ zitiert, die auch auf Genuss verwöhnten Zungen zergehen: „Wort halten am Ende nur die Bücher.“ (9) / „Eine Grenze überschreitend, erkennen wir mitunter, dass sie gar nicht existiert.“ (15) / „So viel Neugier und so wenig Interesse!“ (31) „Nachsichtigkeit – die Sehschwäche der Gutmütigen.“ (59) Und als kritischen Kommentar zur ununterbrochenen Handy-Nutzung: „Wie einen Menschen erreichen, der permanent erreichbar ist?“ (45)
Resümierend sei festgehalten, dass der Verzehr von so vielen „Pralinen“ wahrlich kein Zuckerschlecken war;. Wer jedoch im Rahmen dosierter Lektüre durchhält, der wird auch durch ertragreiche Fundstücke belohnt. Im Unterschied zu vorangegangenen Veröffentlichungen (zum Beispiel „Bewegungen des Zweifels“ aus dem Jahr 2006 und „Die Süße der bitteren Wahrheit“ 2023), in denen zahlreiche längere essayistisch-philosophische Reflexionen enthalten sind, überwiegen im jüngsten Buch eindeutig die Ein- und Zweisatz-Aphorismen mit „augenzwinkerndem Wortspiel“ (laut Klappentext). Als Schlusspunkt sei dieser letzte Aphorismus von Sascha Heße gesetzt, der gleichsam ein Fazit seines eigenen aphoristischen Schreibens darstellen dürfte: „Wer nach dem Ganzen verlangt, fabriziert nur Bruchstückhaftes; wer sich mit dem Bruchstück begnügt, offenbart darin Ganzheit.“ (65) Damit spricht der Autor generell den ambitionierten Anspruch der Gattung an, den Erwin Chargaff metaphorisch so zum Ausdruck gebracht hat: Wenn die Sonne auf ihn fällt, glitzert ein Splitter kräftiger als ein Spiegel; dies gilt auch für den Aphorismus.“ Möglicherweise wird Heße mit mir auch dieser paradoxen Definition von Hans Kasper zustimmen: „Aphoristisch zu denken (und zu schreiben) ist der Versuch, der Unvollkommenheit gedanklicher Perfektion zu entgehen.“
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