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Jürgen Wilbert über:
Winfried Schindler: Spitzen und Spitzfindigkeiten. Göppingen: Bader 2022 und
Winfried Schindler: Sprach-Spiele – Der Aphorismus in Theorie und Praxis. Sonnenberg Verlag 2023

 

„Spitzen und Spitzfindigkeiten“

Der Autor legt hier nach „Die Paradoxie der Wahrheit“ (2020) – darüber ist auf der DAphA-Homepage eine ausführlichere Besprechung erschienen – seinen siebten Aphorismenband vor. Darin stellt er seinen eigenen Kurztexten erneut ausgewählte Fremdaphorismen voran, darunter bezeichnenderweise dieses Zitat von Rainer Malkowski: „Nichts steht weniger im Widerspruch zur Wirklichkeit als ein Paradox.“ Schindlers Auffassung vom Wesen des Aphorismus wird dieses Mal im Klappentext erläutert, indem er auf ein Zitat von Friedrich Nietzsche verweist: „Das Unvollständige als das Wirksame. – Wie Relieffiguren dadurch so stark auf die Phantasie wirken, dass sie gleichsam auf dem Wege sind, aus der Wand herauszutreten und plötzlich […] Halt machen“. Für Schindler verbindet die Aphoristik zwei gegensätzliche Schreibweisen: die Philosophie und die Dichtung. Man vergleiche in diesem Zusammenhang bloß die bildhaft-originelle Definition von Gerhard Branstner: „Der Aphorismus ist ein gewitztes Kerlchen, das Kunst und Philosophie in Liebe gezeugt haben: von der Philosophie hat es die Art zu fragen, von der Kunst zu antworten.“

Die neue Publikation umfasst 131 Seiten mit insgesamt weit über 400 aphoristischen Kurztexten. Erfreulicherweise ist das Buch wieder in themenorientierte Kapitel gegliedert. Im ersten Abschnitt „statt eines Vorworts“, sozusagen zur Einführung in die Gattung, finden wir „Aphorismen über den Aphorismus“. Zwei der in meinen Augen gelungensten Definitionen lauten: „Der Aphorismus grenzt ab und entgrenzt zugleich.“ (S. 8) / „Der Aphorismus ist eine paradoxe Denkform, die sich dem Undenkbaren stellt.“ (9) In diesem Einstiegskapitel kritisiert der Autor den „modernen Aphorismus“, weil er „in Gefahr [ist], sich ohne große Gegenwehr zu Tode zu kalauern.“ (10) Dennoch scheut er dann und wann auch selber nicht vor schalen Wortwitzen oder Kalauern zurück, wie etwa auf der letzten Seite (131): „Paradox ist, wenn ein Antialkoholiker für voll genommen wird.“ Zugegeben, diese Beispiele finden sich in erster Linie im Kapitel VII, das vorzugsweise Sprachspielerisches enthält (übrigens häufig nach dem Wer…, der…- Schema), wie zum Beispiel: „Wer nichts zu sagen hat, macht umso mehr Worte.“ (122)

Doch der Reihe nach: Im Kapitel I geht es wie im Vorgängerbuch hauptsächlich um philosophisch-existenzielle Fragen wie Wahrheit, Sinn, Wirklichkeit, Leben und Tod. Hier stoßen wir auf diese nachdenkenswerte Metapher: „Die Hohlheit eines Gefäßes demonstriert die Nützlichkeit des Nichts.“ (34) Gern werden vom Autor vermeintlich widersprüchliche Gedanken präsentiert: „Nichtstun ist eine gewaltige Leistung.“ (33) Oft (zu oft?) zieht sich Schindler auf die Position des In-Frage-Stellens zurück: „Müssen wir sterben, weil wir nicht gelernt haben zu leben?“ (26) Oder: „Welcher Ort verdient den Namen HEIMAT?“ (25) Dies ruft möglicherweise bei der/dem Lesenden einen gewissen Ermüdungseffekt hervor. Elazar Benyoëtz spricht sinnigerweise von einer „ermüdenden“, eben „nicht erschöpfenden Kürze“ des Aphorismus.

Im Kapitel II werden Themen des Zwischenmenschlichen, im Kern die Liebe behandelt. Hier finden sich neben lyrisch-pathetischen Kürzesttexten wie „In der Sprache der Liebe werden Wörter zu Rosen.“ (S. 52) (Dieser Aphorismus ist bereits in der Veröffentlichung aus dem Jahr 2020 abgedruckt!) oder „In der Liebe umarmen sich zwei Seelen.“ S. 47) auch tiefenpsychologisch orientierte Kommentare: „Schlägt alles Erotische ins Neurotische um?“ (55) – oder Behauptungen: „Liebe ist nicht formulierbar.“ / „Liebe ist Lust am Fremden.“ (36) Auch in diesem Themenabschnitt wird der / die Lesende allerdings wieder mit zu vielen Fragen Liebe betreffend konfrontiert, die im Unverbindlichen verhaftet sind, so etwa auf S. 55: „Wie kann man seine verlorene Liebe wiederfinden?“

Dem neuen Band liegt der gleiche Bauplan zugrunde, denn auch hier wendet sich der Autor im Kapitel III den Fragen des Religiösen zu. Durch diese inhaltliche Bündelung fällt natürlich in stärkerem Maße auf, wie nah die Aussagen so mancher Aphorismen am Sinngehalt der Nachbar-Aphorismen zu verorten sind, so stehen zum Beispiel auf S. 62 diese beiden Sätze direkt hintereinander: „Konstruieren sich die verschiedenen Religionen ihren je eigenen Gott?“ Und: „Ist für jede Religion Gott ein anderer?“ Der Autor weicht hier ebenfalls eindeutigen Festlegungen aus; dies heißt somit gemäß der eigenen Aussage auf dem Klappentext, „dass der Leser in besonderem Maße aufgerufen ist, sich in die ihm vom Verfasser gebotenen Spielräume einzubringen.“ Hier wünschte ich mir als Leser jedoch eher klarere Positionen anstelle solcher wiederkehrenden Fragen: „Hat es Gott nötig, auf uns zu warten?“ (70) Und: „Ist der Tod ein Agent Gottes?“ (69) Gemäß bewährtem Bauplan handelt auch der folgende Abschnitt IV von Themen rund um die Kunst. Auch hier erwartet die Leserin / den Leser eine Fülle von aphoristischen Definitionen und Aussagen, die mal tiefsinnig und erkenntnisfördernd sind, mitunter aber auch selbstredend oder schlichtweg banal. Man vergleiche nur diese beiden Textbeispiele: „Kunst: ein großes Vielleicht.“ (74) Demgegenüber: „Kunstwerke vermögen uns so zu faszinieren, dass wir uns vergessen.“ (80) Auffallend auch hier, wie sehr Schindler insbesondere das Antithetische, Kontroverse und Paradoxe reizen: „Kunst: dargestellte Nicht-Darstellbarkeit.“ (75) Im Einzelfall klingt der Kurztext jedoch allzu konstruiert, wie hier bei der Begriffsbestimmung der Dichtung: „Im Ausgesprochenen Unaussprechliches ansprechen.“ (81) Zu den überzeugendsten Beispielen zählen meiner Ansicht nach diese Aphorismen: „Musik gibt der Stille Form.“ (83) / „Philosophie nimmt der Welt ihr Geheimnis, Poesie stattet sie mit ihm aus.“ (89)

In der Rubrik V finden sich Aphorismen einzig und allein zum Sinnbild des Spiegels, während sich im Folgekapitel der Autor vorzugsweise selbstreflexiv mit dem Menschsein, dem Selbstbewusstsein und der Selbstverwirklichung beschäftigt, wobei häufig die schwer fassbare Kategorie der Seele herangezogen wird (auf den Seiten 112 ff.). Hier bleiben die Aphorismen folglich vage: „Was kommt hinter der Seele?“ (113) / „Unsere Seele ist Fragment eines anderen Seins.“ (112) Es werden vom Autor mal wieder mehr Fragen aufgeworfen als Antworten formuliert, seien sie auch aphoristisch-apodiktischer Art. Dieser Eindruck des Unverbindlichen, mitunter Schwammigen trübt aus meiner Sicht das Gesamtbild; dazu passt exemplarisch die folgende Meeresmetapher: „Die Seele ist das Meer, auf dem das Ich hin- und hergeworfen wird.“ (113) Wie der Autor bereits in seinem Band „Die Paradoxie der Wahrheit“ aus dem Jahr 2020 so passend formuliert hat, steht derjenige, der „mit der Sprache spielt“, in der Gefahr, „zu ihrem Spielball [zu werden].“ (Ebenda, S. 80)

Als Rezensent fühlte ich mich bei der Lektüre auch mehrfach hin- und hergeworfen – zwischen positiver Würdigung und kritischer Beurteilung. Denn neben gelungenen, prägnanten und zugespitzten Aphorismen – wie „Wer mich schont, verletzt mich.“ (116) – stößt man immer wieder auf zwar wohlklingende, aber im Kern versponnene, ja nichtssagende Beispiele wie: „Die Seele ist metaphysisch durchhaucht.“ (117) Im letzten Kapitel VII, das Sprachspielerisches beinhaltet, wird man wieder etwas versöhnt durch intelligente und wortwitzige Variationen unserer Alltagssprache: „Reisende werden verrückt.“ (122) / „Wer nur seine Heimat kennt, ist sitzen geblieben.“ (123)

 


„Sprach-Spiele – Der Aphorismus in Theorie und Praxis“

2023 legt Schindler seinen achten Aphorismusband vor, dieses Mal anlässlich des Todes des Altphilologen Paul Barié mit dessen lesenswerten „Reflexionen über die kleinste Literaturgattung der Welt“. Der Aphorismus ist für ihn „ein Denk-Bild (…) aus Philosophie und Dichtung, zwei unterschiedlichen Sageweisen, die sich in einem gegenwendigen Spannungsfeld wechselseitig relativieren, bereichern und steigern.“ (in: „Aphoristik der Gegenwart“, S. 133)

Nach den fundierten und für ein Verständnis der Gattung aufschlussreichen Texten von Barié schließen sich Schindlers Aphorismen in neun Abteilungen an, die jeweils thematisch voneinander abgegrenzt sind: II Tod, III Wahrheit, IV Ich, V Kunst / Musik, VI Aphorismus, VII Gott / Religion, VIII Schmerz und IX Kommentare zu historisch bedeutenden Mythen und Personen. Diese inhaltliche Gliederung in „Gedankennester“ (so Barié) bietet eine Orientierungshilfe bei der Lektüre der insgesamt rund 650 Aphorismen. Bariés Anmerkungen sind jeweils Einführungstexte zu vorangegangenen Aphorismenbüchern. In einem dieser Vortexte heißt es: „Aphorismen sind Sprachspiele, deren Ernst ins Spiel gebracht wird, ohne dass die Leichtigkeit dabei verloren gehen darf …“. (27)

Es gelingt Schindler immer wieder, zwischen philosophisch tiefsinnigen, zum Teil schwermütigen Gedanken und verknappten, sprachspielerischen Ausdrucksformen eine Balance zu schaffen. Nach eigener Aussage: „Leichtsinn und Tiefsinn gehen Hand in Hand im Aphorismus.“ (157) Und wie hat diesen Balanceakt Gerhard Branstner mal so passend definiert: „Der Aphorismus ist ein gewitztes Kerlchen, das Kunst und Philosophie in Liebe gezeugt haben: von der Philosophie hat es die Art zu fragen, von der Kunst die Art zu antworten.“ Hierfür findet Schindler dieses eigene Bild: „Philosophie und Kunst sind Kippfiguren des Aphorismus.“ (145) Zum Beleg dieser Sprachkunst betrachte man nur diese drei Aphorismen aus dem Themenkomplex Tod: „Der Tod macht das Leben intensiver.“ (43) / „Der Tod ist nicht der Widersacher des Lebens, sondern dessen anderer Pol.“ (45) / „Eine chronische Krankheit ist eine Lebensversicherung gegen einen frühzeitigen Tod.“ (50) Es handelt sich hierbei um verschiedene Sichtweisen / Auslotungen rund um das Thema des Sterbens, des Schmerzes und des Todes, jeweils in der kürzest möglichen Ausdruckform, zumeist in Eins-Satz-Aphorismen. So wird der Leser / die Leserin in eine intensivere Auseinandersetzung mit einem Thema verwickelt, statt – wie sonst in Aphorismenbüchern üblich – von einem Gedankensprung zum anderen verleitet. Schindler beschreibt beispielsweise Aphoristiker als „Wanderer, die nicht lange an einem Ort bleiben, sondern ziellos weiterziehen.“ (145) Doch dies möchte der Autor in seinen Aphorismen möglichst vermeiden, denn für ihn ist der Aphorismus „ein Wegweiser in unterschiedliche Richtungen.“ (145) Der Suchprozess verläuft in sich paradox: „Aphorismen suchen zu einem Horizont vorzudringen, der bei jedem Schritt auf ihn zu zurückweicht.“ (150) Der Autor verzichtet aber auch injdnem neuen Band nicht auf rein wortwitzige Formulierungen, wie etwa in dieser Variation einer Redensart: „Aphoristiker schlagen alles kurz und klein.“ (158) Oder wie in dieser gegensätzlichen Frage: „Läuft, wer aufs Jenseits verzichtet, ins Abseits?“ (175)

Erstaunlich, dass Schindler sich in einer Themengruppe allein mit dem Schmerz befasst (177-179). Vereinzelt finden wir Aphorismen dazu bereits im Abschnitt II über Tod und Sterben, so u. a.: „Der Schmerz, der uns vereinzelt, ist ein Partner des Todes.“ (52) In Kapitel VIII hebt der Autor die Unverwechselbarkeit und Widersprüchlichkeit des persönlichen Schmerzempfindens hervor: „Der Schmerz, der erträglich ist, steigert unsere Vitalität.“ (179)

Der Abschnitt IX fällt insofern heraus, als Schindler hier verschiedene historische Mythen und Personen kommentiert, so in ironischer Manier: „Sisyphos hatte das Glück, eine Lebensaufgabe zu haben.“ (181) Auch Erscheinungen des Zeitgeistes werden aphoristisch unter die Lupe genommen: „Tätowierungen sind die masochistischen Verwundungen, die der Narziss der Moderne sich zufügt.“ (181) Auch da gewinnt bisweilen der Sprachspieler wieder die Oberhand: „Hippokrates versuchte Menschen mit Aphorismen zu heilen.“ (184) Oder: „Ovids Philemon und Baucis: Liebe noch auf den letzten Blick.“ (188)

Als Resümee teile ich Bariés Einschätzung: „Schindlers beste Aphorismen sind scharf pointierte, provokative oder melancholische Aperçus, die sprachexperimentell ungewohnte Gedankenwege freisetzen …“ (12); und diese Wege, so „leichtfüßig“ sie auch „daherkommen“ mögen, müssen vom Leser / von der Leserin eigenmächtig beschritten und weiterverfolgt werden, um so ihre volle Wirkkraft zu entfalten. So argumentiert Schindler schließlich selbst (160): „Die Kürze des Aphorismus eröffnet mehrere Wege zu ihrer Ergänzung.“

 

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