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Friedemann Spicker über:
Anna Rosa Schlechter, Claudia Welz (Hrsgg.): Buchstabil: Von Büchern und Menschen. Zum 85. Geburtstag von Elazar Benyoëtz. Judaica: Neue digitale Folge 3, 2022. Themenschwerpunkt. [Link]

 

Zum 85. Geburtstag von Elazar Benyoëtz ist jetzt in der Schweizer Online-Zeitschrift „Judaica“ unter dem schönen Titel „Buchstabil. Von Büchern und Menschen“ eine Sonderausgabe erschienen, die bei DAphA unbedingt angezeigt werden sollte, wenn sie auch nicht rezensiert wird, weil der Rezensent selbst als Verfasser eines Beitrags vertreten ist. Die Festschrift zum, 85. Geburtstag enthält sechs Forschungsbeiträge aus Literaturwissenschaft, Theologie, Religionsphilosophie und Judaistik, dazu von der Mitherausgeberin Anna Rosa Schlechter gemeinsam mit Jan Kühne edierte „Autobiographische Mitteilungen“ von 1961. Die Herausgeberinnen Anna Rosa Schlechter und Claudia Welz verweisen in ihrem Editorial auf die vielfältigen Kontakte Benyoëtz’ in die Schweiz seit den 1960er Jahren, beispielsweise die enge Freundschaft mit der deutsch-jüdischen Dichterin, Essayistin und Literaturkritikerin Margarete Susman.

Lydia Koelle schildert Benyoëtz’ Begegnung mit der Schweizer Dichterin und katholischen Ordensfrau Silja Walter bei ihrer gemeinsamen Lesung während der Solothurner Literaturtage 2003 und den Austausch über deren Interpretation der biblischen Frau Gomer aus dem Buch Hosea, indem sie den Briefwechsel im Detail auswertet.

Friedemann Spicker arbeitet unter dem Zitattitel „Die Menschen, auf die es ankommt: Du und ich“ die dialogische Struktur als ein spezifisches Merkmal des Werkes Benyoëtz’ heraus. Er stellt dazu den Zusammenhang mit der Gattungsgeschichte des Aphorismus her, zeigt die dialogische Struktur im Zitat und arbeitet für den Du-Aphorismus in hierarchischem Sinne die Autorität einer moralischen wie einer religiösen Instanz, die Autor-Leser-Beziehung, das Selbstgespräch sowie ein visionäres Du heraus. Dazu werden die bestimmenden grammatischen Strukturen (Imperativ, Negation, Konditionalsatz) analysiert und exemplarisch vorgeführt.

Auch Werner Helmich befasst sich in seinem Beitrag „Spruchzitate: Funktionen und Gattungsstatus des Zitats in der neueren Aphorismendichtung von Elazar Benyoëtz“ mit dem ‚Zitatenwerk‘; die beiden Aufsätze ergänzen sich ideal. Von der Hybridität der Aphorismengruppe zwischen Prosa und Poesie ausgehend, greift er die Frage auf, warum der Aphoristiker so stark und so bestätigend auf Zitate zurückgreift, und analysiert äußerst genau das Binnenverhältnis zwischen den vom Autor stammenden Aphorismen und den von ihm neu ins Blickfeld gerückten Zitaten. Als Typisierungskriterium dienen Helmich dabei die Mittelstellung bzw. die Endstellung der Zitate. Er zeigt, wie die Spruchzitate durch ihre quasi-poetische Präsentation und ihre diskursive Nähe zu den sie umgebenden poetischen Aphorismen diesen generisch angenähert werden, und sieht den Autor neben seiner Rolle als Schöpfer von aphoristischen Texten zunehmend als Philologen und zitierenden Kommentator.

Der katholische Theologe Knut Wenzel stellt unter dem Titel „Abkürzungen ins Absolute. Werk aus Aphorismen“ religionsphilosophische Beobachtungen zum Aphorismus als fragmentarischer Figur des Absoluten vor. In einem breiten Exkurs hebt er den Aphorismus als „prägnanten Ausdruck des Subjekts“ von „einer chinesisch dominierten, komplett durchkapitalisierten Digital-Literatur“ ab: „Die Legitimation dieses Werks geht durch den Nullpunkt lebensgeschichtlich realisierter Subjektivität.“ Dabei geht er bis auf Augustinus und dessen Bild vom Menschen als Geschöpf Gottes, „aus seiner Liebe geschaffen“, zurück. Der Aphorismus könne „als die negativistische Signatur der Abkürzung ins Absolute gelten“.

In Libera Pisanos Artikel „Wohnwort: The linguistic homelands of Elazar Benyoëtz“ geht es um die Spannung zwischen der geographischen und der philologischen Heimat im Deutschen, dem „Wohnwort“ des Dichters. „Diese Spannung prägt Pisano zufolge die symbolischen Landschaften seiner Poesie und ist exemplarisch für die Sprachphilosophie der Diaspora“, wie es im Editorial treffend heißt. Der Beitrag arbeitet dabei die Verbindung zur Sprachskepsis der Jahrhundertwende, zu Karl Kraus, Fritz Mauthner und insbesondere Gustav Landauer heraus und interpretiert eine spezifische Diaspora-Metaphorik von Meer, Sternen, Himmel und Schatten her. Im Jiddischen kämen Hebräisch und Deutsch zur Versöhnung.

Besondere Aufmerksamkeit dürfen sicher die im Anhang publizierten Autobiographischen Mitteilungen von 1961, ursprünglich für Margarete Susman verfasst und hier erstmals in einer kritischen Edition vorgelegt, zusammen mit Jan Kühnes und Anna Rosa Schlechters Aufsatz „Bücher blühen – Anfänge aphoristischer Autorschaft bei Elazar Benyoëtz“ beanspruchen, die die bisher wenig bekannte Frühphase des Dichters erhellen. Die Autoren stützen sich auf Archivmaterial und die mit vielen Lesespuren versehene Auswahl von zirka 600 der wichtigsten Werke seiner Autorenbibliothek, die er der Hebräischen Universität Jerusalem vermacht hat. Sie führen die Ursprünge seiner deutschsprachigen Aphorismen auf die traditionelle hebräische Literatur und seine jüdische Erziehung zurück, erstellen Fallstudien (unter anderem zu Else Lasker-Schüler, Gershom Scholem und Hugo Bergmann), können von diesem Material her die gemeinsam mit Werner Kraft vorgenommene Lektüre von Joachim Günthers „Findlingen“ genauer beleuchten und wenden sich auch erstmals intensiv der reflexiven Dimension der Selbstlektüre des Autors, einer „blühenden Distanz“, zu.

 

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