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Friedemann Spicker über:
Ulrich Horstmann: Schwermutmacher. Gedichte und Aphorismen. Berlin: PalmArtPress 2021.

 

Die Unterscheidung zwischen den Aphoristikern, die von der Erkenntnis, und jenen, die vom Spiel her zum Aphorismus finden, ist so alt wie die Gattung als Erkenntnis-Spiel im Grenzgebiet von Wissenschaft, Philosophie und Literatur selbst. Im 20. Jahrhundert personifiziert sie sich etwa in den Protagonisten Karl Kraus und Hugo von Hofmannsthal. Ein entscheidendes Qualitätsmerkmal scheint mir dabei zu sein, wie weit die Autoren sich jeweils, sei es vom Pol des Sprachspiels, sei es vom Pol moralistischer Erkenntnis her, auf eine integrierende Mitte zubewegen. Man darf den Schluss ziehen, dass diese Polarität unverändert in Geltung ist, wenn man zufällig gleichzeitig Ernst Reinhardt: „Woher? – Wohin? Aphorismen zu Lebensfragen“ (Basel: Reinhardt 2021) und Ulrich Horstmanns neues Buch auf den Tisch bekommt. (Für biographische Notizen zu dem Autor kann ich auf Jürgen Wilberts Rezension an gleicher Stelle verweisen.)

Der „Einfallstor“ Horstmann, der sich hier als „Sprinter und Kurzstreckler“ (138) vorstellt, vertritt seit je die Wortspielfraktion, aber auf eine nicht nur sehr eigene, launige, bisweilen skurrile, sondern eben auch erkenntnisreiche Art. (Wenn man ihn solcherart zu einem „Vertreter“ macht, muss man achtgeben, dass man sich in seiner Schule nicht sogleich den Versfuß vertritt.) Er hat bei der Sprache immer gewissermaßen neben ihrer Seele (der Bedeutung) den Leib (ihren Klang) im Ohr und im Geist; neben ihre Mitteilungs- und Darstellungsfunktion treten konsequent ihre poetische Funktion und ihr Klangkörper. Das gilt für die Gedichte, ob in der „Ueckermark“ (69) oder bei der „Aro Gans“ (54), und reicht hier bis zum Spiel mit der Grafik („nICHtfi ScH UndI ChtfLe isCH“, Schneeregen, 35) und dem spiegelverkehrten Löschpapier (42).

Für die 2. Abteilung „Schwermutmacher“, auf die ich mich hier konzentriere, macht das schon der Titel „Auf der Seuchlingsstation“ deutlich, der ein aphoristisches Tagebuch zusammenfasst: kommentierte Exzerpte, Reminiszenzen, präzise gefasste Alltagsbeobachtungen und eben Aphorismen. Der „zweite Blick auf die Sprache“ bestimmt nicht nur die Reihe „Deutsch als Fremdsprache“, die sich durch die Texte zieht. Da werden Komposita gebildet oder neu gedeutet, das „Bibelfest“ (133), die Hintertür als „Wahlausgang“, die „Fallstudie“ (138), da erfreut der Autor den sprachorientierten Leser (und auch die Leserin!) mit der „eingefleischten Vegetarierin“ (113) oder wenn ein Ort betreten betreten wird (131). Das Arsenal der Phraseologismen und Homonyme, der Frühlink (135), das aufgeflogene Reisebüro (137), sowie der Neologismen wie „argwohnlich“ (112), „Sattsamer“ (139) oder „Abkanzelei“ (143) wird ausgebreitet: „Traum der Hühner, Alptraum des Hühnereis – der Auslauf.“ (111). Das geschieht in der Regel hintersinniger, recht verstanden: hinterlistiger, als man es gemeinhin kennt, hier etwa in der Kombination von „Vollzug“, „Haft“ und „absitzen“ in einen völlig neuen Kontext: „Regelvollzug der Schriftstellerei: Einer sitzt seine Zeit ab, und es haftet nicht.“ (94) Für den, der bei der „Haftpflicht einer Schnecke an der Aquariumswand“ (107) die Prüfung auf das doppelte Lesen bestanden hat, wird sich die Quacksalberei dort, wo ein Buch zu „besprechen“ ist, oder bei seinem Absatz, der so ist, „dass ich nicht einmal darauf kehrtmachen kann“ (121), unmittelbar erschließen. Dabei macht der Autor vor nichts Halt, auch nicht, wenn er dem Unterschenkelamputierten nicht „auf den Fuß getreten“ zu haben glaubt (107).

Zweierlei bleibt festzuhalten: Dieser doppelte Blick schult; wir werden sensibilisiert für das Ganze der Sprache, das sich nicht in klischierter Kommunikation erschöpft. Und das alles wird nicht zum Selbstzweck, sondern dient immer dazu, dem satirischen Florett zusätzlich Schärfe zu geben. Die Polemik gegen den ehemaligen ‚Großkritiker’ Fritz J. Raddatz, den Mann, der „keinen Kelch an sich vorübergehen lässt, wenn er nur mit Champagner gefüllt ist“ (127), ist in dieser Art nicht zu überbieten. Wer die Selbstgerechtigkeit des Aphoristikers am Beispiel Horstmanns betonen oder beklagen wollte, sollte freilich die Fortsetzung auch zur Kenntnis nehmen, in der er sich „Seite an Seite, Schwarte an Schwarte in demselben Stall“ sieht (132).

Nur keinen Streit vermeiden! Das kommt mir unmittelbar nach dem jüngsten Aphoristikertreffen vor allem in den Sinn, wenn ich als eine eigene Schicht seines Tagebuchs die Pandemie herauslese: mit ihrer sozialen Paralyse, ihrem „Seuchenwart“ (129), den „maulkorbbewehrten Zombies“ und „Intensivstationsüberfüllungsverhinderern“ (125), in summa der „Aufkündigung unserer Grundrechte“ (124 f.): „Hygienisch, keimfrei, steril, so blitzt und blinkt er uns an, der Königsweg in die Immunschwäche.“ Wenn der Aphorismus im besseren Fall als Spruch zum Wider-Spruch anregt, dann hier! Allesamt „Mitteilungen ohne Mundschutz“, zu ihrem Vorteil!

 

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