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Jürgen Wilbert zu:
Volker W. Degener: „Lichtung und Wahrheit“, Hundert denkwürdige Aphorismen. edition virgines, Düsseldorf 2019

Dieses Bändchen mit Illustrationen von H.-D. Gölzenleuchter aus Bochum umfasst, locker gesetzt, auf 77 Seiten 100 neue Aphorismen des Herner Schriftstellers Volker W. Degener. Bekannt geworden ist der Autor insbesondere durch seine KInder- und Jugendbücher. (Sein literarischer Werdegang ist am Ende des Buches gleich zweimal abgedruckt worden.)

Laut Vorwort von Hannes Krauss (emeritierter Literaturwissenschaftler der Universität Duisburg-Essen) „hat dieser Autor (…) im Alter Spaß an der literarischen Kurzform gefunden.“ Dies habe „nichts mit Konditionsschwäche zu tun. Es ist eher ein Zeichen der Reife.“ Um mein Fazit vorwegzunehmen: Nach eingehender Lektüre bin ich nur selten auf reife Aphorismen gestoßen bin.

Gleich der erste Aphorismus auf Seite 15 weist eine verblüffende Nähe zu einem der klassischen Aphorismen von Marie von Ebner-Eschenbach auf: „Menschen, denen ich eine Stütze bin, verleihen mir Haltung.“ Das Original lautet: „Die Menschen, denen wir eine Stütze sind, die geben uns den Halt im Leben.“ Auf Seite 36 stößt der aphorismenversierte Leser auf eine weitere erstaunliche Affinität: „Wer mich bewundert, kann kein Dummkopf sein.“ (so die verknappte Fassung bei Degener.) Bei Ebner-Eschenbach lesen wir: „Es ist nicht leicht, den, der uns bewundert, für einen Dummkopf zu halten.“ Nach dem gleichen Strickmuster ist hier in Degeners Kurzfassung das „wir“ durch „ich“ ersetzt worden. Derartige Parallelen trüben dann doch das Lesevergnügen erheblich.

Ist bei diesen „inspirierten Aphorismen“ noch gedanklicher Tiefgang zu erkennen, so fällt es bei der überwiegenden Mehrzahl der anderen Kürzesttexte schwer, eine überzeugende inhaltliche wie sprachlich-stilistische Pointierung zu finden. Stattdessen stößt man auf eine Fülle banaler, ja abgedroschener Aussagen wie z.B.: „Ein fleißiger Schriftsteller kann nicht anders als vielseitig sein.“ / „Schriftsteller tragen nicht nur Verantwortung für Wortwahl und Satzbau.“ Oder: „Nur der Mensch kann lesen. Aber nicht alle wissen das zu schätzen.“ Degener schreckt auch nicht vor einem solchen Allgemeinplatz zurück: „Gesundheit ist ein Privileg, dessen man sich erst in schlechten Tagen bewusst ist.“ Bei solchen Kalendersprüchen bleibt der/dem Lesenden nur das selbstredende Abnicken. Den meisten Texten fehlen halt die gattungsspezifischen Merkmale der Zuspitzung und des Sprachwitzes. Kurzum: Ich vermisse durchgehend den aphoristischen Biss.

Auch die folgende Wortneuschöpfung erscheint mir reichlich konstruiert (Rach für Rache?): „Was trägt mehr zur Sicherheit bei, der Rauchmelder oder der Rachmelder?“ Bestenfalls gut gemeint ist ferner dieser moralische Appell mit Blick auf den Umgang mit Flüchtlingen: „Für jeden Menschen die richtigen Worte finden, egal in welcher Sprache.“

Zu häufig spürt man das schematische Bauprinzip der Kontradiktion: „Mit Grenzkontrollen geraten wir unkontrolliert an unsere eigenen Grenzen.“ / „In der Diktatur gibt es einfache Regeln. In der Demokratie schwierige Lösungen.“ / „Das Wort Tugend klingt ziemlich tot. Wie soll es dann gelebt werden?“

Bei weiteren Textbeispielen ergeben sich – wie bereits in einem Vorgängerbändchen, das 2008 im Brockmeyer-Verlag Bochum erschienen ist – frappante Ähnlichkeiten zu bereits veröffentlichten Aphorismen der Recklinghäuser Autorin Edith Linvers. Hier seien nur zwei der markantesten Beispiele erwähnt: „Wenn jemand aus dem Rahmen fällt, sind wir im Bilde.“ (Degener, S. 15) Bei Linvers heißt es: „Als er aus dem Rahmen fiel, war ich im Bilde.“ / „Für jeden Menschen die richtigen Worte finden, egal in welcher Sprache.“ (Degener, S. 60) Vgl. Linvers: „Eigene Worte finden, egal in welcher Sprache.“

Mein Resümee: Entgegen der äußerst positiven Einschätzung von Hannes Krauss im Vorwort „befördert“ das Buch keine „überraschenden, betörenden und erschreckenden Einsichten“. Insgesamt unterbietet Degener mit diesem neuen Aphorismenband sein bisher auf anderen literarischen Feldern unter Beweis gestelltes Niveau. Die Gattung der Aphoristik ist offensichtlich nicht sein genuines Betätigungsfeld.

JWD, Düsseldorf, 27.9.2019

 

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