zurück zur Übersicht der Rezensionen

 

Friedemann Spicker über:
Walter Kargl: Macht und Magie der Worte. Ein Streifzug durch Redensarten, Sprachschätze und Gedankensplitter. Hildesheim: Olms 2025. 615 S., 29,80 Euro.

 

Außerordentlich imponierend kommt Kargls Wälzer daher, das Bild vom Ziegelstein greift noch zu kurz: 615 Seiten im Lexikonformat (23,1 x 28,8 cm), doppelspaltig. Er ist das Ergebnis lebenslangen Sammelns seines Autors, eines emeritierten Professors für Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und Strafrecht. Der Titel kommt vielleicht ein bisschen zu suggestiv alliterierend daher (ist aber zweifellos wirksam und deshalb im Übrigen auch für andere Titel schon mehrfach verwandt worden). Im Untertitel verspricht das Buch einen „Streifzug durch Redensarten, Sprachschätze und Gedankensplitter.“ Es geht, genauer gesagt, vorrangig um Phraseologismen und Komposita, dann um Sprichwörter, auch Aphorismen, Titel, Werbeslogans, Zitate.
Im Vorwort gibt der Autor genauere Erläuterungen zum Korpus seiner Sammlung. Überraschend der Ausgangspunkt: Comics mit ihrer Lautmalerei, Verdichtung und Lakonie (Donald Duck, Übersetzerin Erika Fuchs). „Inhaltlich stehen Redensarten, Sprichwörter, vergessene und zusammengesetzte Wörter („Schalk“, „Pranger“), Umgangssprachliches, Wissenswertes sowie Aphorismen und Zitate im Vordergrund.“ (V) Besonderes Augenmerk gilt den Komposita („Hingabe“, „Augenweide“, „Schreckschraube“). „Sinn für Komposita“ überschreibt die FAZ ihre Rezension (16. 8. 2025). „Den Entschluss, zusätzlich Gedankensplitter (Zitate, Aphorismen) aufzunehmen, erleichterte die Überlegung, dass diese zwar ebenso wie Sprichwörter Lebensweisheiten und Erfahrungen vermitteln, sie als subjektive Meinungen der Autoren aber pointierter auf den Punkt bringen.“ (X) (Für Aphorismen sollte man nicht zuviel erwarten [Ausnahme: Goethe]. Eine Stichprobe S. 100-130 ergibt für Lichtenberg z. B. keinen Eintrag.) Andererseits kann man etliches kennenlernen, den Liedermacher Tobias Hagelstein („fieser Möpp“, 156), den Aphoristiker Peter Rudl („Wer mit den Wölfen…“, 564), um zwei entlegenere Namen willkürlich herauszugreifen.

Disparatheit auf mehreren Ebenen bestimmt das Werk. Sie bezieht sich auf die Auswahl der Einträge, also der Lemmata, ihre Anordnung, die Erklärungen.
Das Buch ist das Sammelwerk eines Sprachliebhabers; wissenschaftliche Ansprüche zu erheben wäre verfehlt, etwa was die Auswahl der Lemmata angeht. Es stellt eine Mischung dar: aus einem Etymogielexikon (wie „dem Kluge“, 22. Aufl. 1989), einem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (wie „dem Röhrich“, 1973), einem Spruchwörterbuch (etwa dem alten „Lipperheide“, 1907), einem Wörterbuch der Umgangssprache (wie „dem Küpper“, 1987), einem Bedeutungswörterbuch (wie „dem Paul“, 9. Aufl. 1992), einem Sprichwörter-Lexikon (wie dem alten „Wander“, 5 Bde. 1867 und vielen Nachfolgern) (einige davon im Literaturverzeichnis, 615). Der Duden allein stellt in Band 10 (Bedeutungswörterbuch), Band 11 (Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten) und Band 12 (Zitate und Aussprüche) das Sprachmaterial, das auch hier zugrunde liegt, „sortiert“ bereit, ganz zu schweigen von äußerst nützlichen Websites (für Aphorismen etwa www.aphorismen.de).[1] Die Mischung, aber auch der Reichtum, der sich dem Stöbernden auftut, lassen sich bei einem Werk solchen Umfangs nur exemplarisch darstellen.
Ich möchte das an drei Wortarten zeigen:
– einem unbestimmten Numerale („all“, 8-13): Da finden sich die Redewendung („allerhöchste Eisenbahn“); der umgangssprachliche Ausdruck („alle machen“); der Weihnachtsliedtitel („Alle Jahre wieder“); der feste Ausdruck („allem Anschein nach“); der Aphorismus: „Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken“ (Goethe); das Zitat: „Alles schläft, einsam wacht“; der Songtitel („Alles im Griff“, Udo-Jürgens). (Im Einzelfall ist allerdings die Gegenrecherche notwendig: „Alles gackert: aber will nicht still auf dem Neste sitzen und Eier brüten?“ macht im Gegensatz zu dem tatsächlichen Nietzsche-Zitat keinen Sinn: „Alles gackert: aber wer will noch still auf dem Neste sitzen und Eier brüten?“)
– einem Relativpronomen (das im Übrigen eine besonders häufige syntaktische Figur im Aphorismus einleitet („Wer“, 562-567)[2]: Es finden sich: das Sprichwort: („Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“; „Wer angibt, hat mehr vom Leben“); der Aphorismus: „Wer klare Begriffe hat, kann befehlen.“, Goethe); der römische Rechtsgrundsatz („qui tacet, consentire videtur“; wer schweigt stimmt zu.“); der Slogan („Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“); das Bibelzitat: „Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich“); die Sprachfloskel: „Wer hat, der hat.“
Das Interrogativpronomen läuft mit unter („Wer weiß“; „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“), auch die rhetorische Frage: „Wer sagt’s denn?“
– einer Präposition („mit“): Auch hier finden sich: das Zitat („Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens“); die sprachliche Wendung („Mit den Nerven am Ende sein“), der Phraseologismus, der hundertfach aphoristisch verwertet wurde („Mit dem Strom schwimmen“); der Aphorismus („Mit dem Wissen wächst der Zweifel.“, Goethe); ein einfacher Ausdruck, der keiner Erklärung bedürfte („Mit Bedacht“); die Anspielung auf das Neue Testament („Mit Engelszungen reden“); Doppelformeln (Mit Ach und Krach“, „Mit Haut und Haaren“); die umgangssprachliche Wendung („Mit Ruhm bekleckern“).

Disparatheit bestimmt auch die Anordnung. Sie ist (fast) konsequent alphabetisch, das bedeutet einmal, das sinntragende Wortarten relativ unterrepräsentiert sind („Mensch“ 333f. gegenüber „das“ 103-107), zum andern, dass Zusammengehöriges je nach Kasus und Genus an verschiedenen Stellen steht, etwa der unbestimmte Artikel („ein“, dann „einarmiger“ bis „eindrucksvoll“, sodann erst „eine, einem, einen, einer“). „Einen Hieb haben“ findet man unter H (221), aber „Einen weg haben“ unter E (131). Besondere Probleme im strengen Alphabet macht das Reflexivum („sich“, 447-463); „(Sich) Mit jemandem besser nicht anlegen“ z. B. findet sich nicht hier, sondern unter „m“ wie „mit“.

Disparatheit schließlich auch in den Erklärungen.
Sie sind zum Teil sehr ausführlich („Die Revolution frisst ihre Kinder.“, 409); „Heustock“ mit Hinweis auf eine gesetzliche Vorschrift, 221; „Hic Rhodus,…“ mit Verweis auf ein Hegel-Zitat, 221) und sogar mit kleinen Inhaltsangaben versehen („Kommen und gehen“ mit Hinweis auf Beckett 293; zu „Milchmädchenrechnung“ eine Fabel La Fontaines; „Missionarsstellung“ (breit nach Wikipedia, 337), zum Teil einfach kurios (Dem Eintrag „Niemand ist perfekt.“ folgt die Erklärung: „Jeder macht Fehler, deshalb haben Bleistifte Radiergummis.“, 373), dann aber auch knapp und unnötig („Mistkerl! Mistvieh! Derbe Schimpfworte“, 337; „Mit wohlgesetzten Worten: Gut formuliert“). Selten sind sie mit Quellenangaben versehen (von „Jacob Burckhardt: ‚Weltgeschichtliche Betrachtungen‘ II, 2“ bis „Wikipedia“).

Das Vorwort schließt mit Hinweis auf die Intention des Bandes: „Wenn das Wort seine Bedeutung verliert, regieren Willkür und Unfreiheit.“ Im Werbetext heißt es dazu präziser: „Sowohl im Strafrecht als auch in der alltäglichen Kommunikation würde die Preisgabe der Hoffnung auf die „einigende Kraft der Worte“ (Goethe) gleichzusetzen sein mit Willkür und dem Verlust der Freiheit.“ Entsprechend fehlt auch beim Lemma „Wer“ Goethe nicht („Wer klare Begriffe hat, kann befehlen.“). Der Gedanke ist alt; schon bei Konfuzius heißt es: „Die Richtigstellung der Begriffe muss allem vorangehen.“ Das kann man angesichts der gegenwärtigen semantischen Verwüstung zumal in den USA in der Ära Trump, wo die Erpressung zum „deal“ wird und, wo die Absicht geäußert wird, Grönland zu annektieren, „die Sicherheit des grönländischen Volkes wieder hergestellt wird“, nicht ernst genug nehmen. So ehrenwert und wichtig gerade heute also diese Intention auch ist, so ist es doch mehr als fraglich, ob (allein) solche Sprachbesinnung dieses Ziel erreicht. Es braucht im Wesentlichen (sprach-)politischen Kampf dagegen. Aber davon abgesehen: Wenn sich der Autor auf den unverbindlichen Begriff des Streifzugs zurückzieht, so können es ihm die Leserin oder der Leser gleichtun und mit unterschiedlichem Gewinn auch ihrerseits einen Streifzug durch die Seiten unternehmen, gemäß einem Goethe-Wort, das hier nicht aufgenommen ist: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“

 

[1] Auf die vielen einschlägigen Publikationen Wolfgang Mieders verweise ich nur exemplarisch: Wolfgang Mieder (Hg.): „Wendige Wendungen“. Modifizierte Redensarten in Literatur, Medien und Karikaturen. Wien: Praesens 2023 (Kulturelle Motivstudien 23).

[2] Vgl. etwa Wolfgang Mieder (Hg.): Verdrehte Weisheiten. Antisprichwörter aus Literatur und Medien. Wiesbaden: Quelle u. Meyer 1998, S. 1-6; ders: „Wer andern eine Grube gräbt…“ Sprichwörtliches aus der Bibel in moderner Literatur, Medien und Karikaturen. Wien: Praesens 2014 (Kulturelle Motivstudien 1), S. 184-209.

 

zurück zur Übersicht der Rezensionen