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Friedemann Spicker über:
Wolfgang Hegewald: Tagessätze. Roman eines Jahres. Göttingen: Wallstein 2021.

 

Wolfgang Hegewald, geboren 1952 in Dresden und 1983 in die Bundesrepublik übergesiedelt, ein preisgekrönter Autor von Romanen, Erzählungen und Hörspielen, der auch als Hochschullehrer für Creative Writing gewirkt hat, ist als eigentlicher Aphoristiker bisher nicht hervorgetreten. Sein jüngstes Buch setzt die Reihe der Bände zwischen Aufzeichnung, Tagebuch und Aphorismus fort, die in der jüngeren Vergangenheit vermehrt erschienen sind. Ich erinnere nur an Rudolf Hartung („In einem anderen Jahr“, 1982), Felix Philipp Ingold („Freie Hand“, 1996), Hans Bender („Wie die Linien meiner Hand“, 1999), Jürgen Becker („Im Radio das Meer. Journalsätze“, 2009), Günter Kunert („Tröstliche Katastrophen“, 2013), Volker Braun („Handstreiche“, 2019) und nicht zuletzt an Hegewalds eigenen „Aufzeichnungen aus dem Jahr 2000“ („Die eigene Geschichte“, 2010). Das macht der glücklich gewählte Titel „Tagessätze“ schon deutlich. Hegewald also setzt mit dem, was er „Hybridprosa“ nennt, diese Reihe fort, aber auf eigene Weise.

Das Buch ist in „Tagessonaten“ für die einzelnen Monate (1.1 – 1.12 usw.) gegliedert, denen Notate diverser Art folgen. Der Autor selbst erläutert sie so: „Eine Tagessonate ist eine Komposition, eine Collage aus drei von mir nicht angetasteten Sätzen einer Tageszeitung. Meine Autorenschaft sieht man an den Nähten, das heißt, es ist auch ein sanfter Unsinn, der da ins Buch hineinweht, es sind groteske Zusammenhänge.“ (https://literaturkritik.de/id/16236), und das will seinerseits exemplarisch erläutert sein. Die Exzerpte lauten etwa: „Wie schön wäre es, ein Gummibaum zu sein.“ – „Das Einzige, was nicht stimmt, sind die Umfragewerte.“ – „Und das wertvolle Pferd ist verschwunden.“ (131); oder: „Die Deutschen haben ein offenes Ohr für ihren Darm.“ – „Die Kollegin hat durch ihre schicke Maske hindurch nicht ‚Peru‘ gesagt.“ – „Wirtschaft ist immer politisch.“ (246). Insbesondere tragen die unterschiedlichsten ins Leere führenden Verknüpfungssignale, kausal, temporal, adversativ, komparativ oder wie immer (nun, so, dafür, dadurch, dann aber, nämlich, allerdings usw.) zur Verschiebung ins Groteske bei: „Die Kryptoqueen zu suchen ist, wie ein Phantom zu jagen. Am Sonntag nämlich pflegen sie ihre Unterwäsche zu wechseln.“ (206); „In Schweden bahnt sich ein Kurswechsel an.“ – „Und dann der Schrei: ‚Akryl, Akryl.‘“ – „Die Weltenretter sind entzaubert.“ (73) Die Bezüge entwickeln hier Assoziationskraft, dort bleiben sie stumpf (wobei man freilich das Friedrich-Schlegel-Zitat „Man braucht Undeutbares in sich, sonst ist man nichts.“ [246] nicht überlesen sollte): „Wer nicht an Gott glaubt, glaubt an alles Mögliche.“ – „Schafe dagegen erkennen sich gegenseitig besser mit dem linken Auge; […]“. (14); „Was das Schwein hinter sich hat, sieht man dem Nackensteak nicht an.“ – „Man findet es sogar im Kühlwasser von Atomreaktoren.“ (130) Es seien „Zufalls- und Gelegenheitskompositionen. In die Jahresmitschrift gestreut. Aus poetischem Kalkül, also weder zufällig noch intentional. Wer Zusammenhänge sieht, kann nicht anders und täuscht sich doch.“ So Hegewald in der Nachbemerkung (285). Wenn man Verwandtes sucht, muss man weit zurückgreifen, in Deutschland etwa auf die Dadaisten Johannes Baader oder Johannes Theodor Baargeld, in Frankreich auf Max Jacob („Le Cornet à dés“, 1917): „Wenn Sie selbst nicht für das Produkt bezahlen, sind Sie selbst das Produkt.“, 195; „Die Lebensdauer eines Gewehrs steht im umgekehrten Verhältnis zur Lebensdauer derer, auf die es angelegt wird.“, 206; „Ein starker Charakter ist auch ein Gefängnis.“ (78); „Irgendwie ist der Regen natürlich selber schuld an seinem Imageproblem.“ (133); „Die Fantasie ist wie ein Pferd ein Fluchttier.“ (78)

Hegewalds Intention im Ganzen: „Ich schreibe kein Tagebuch. Ich komponiere Aufzeichnungen. Es lebe die Differenz!“ (65) Das trifft nicht nur für die Sonatensätze zu; die sehr bewusste Entscheidung, was wann wie aufgezeichnet wird, lässt sich besonders an den Reihen erkennen, der Frage nach „unserem kleinen Grundstück für die Ewigkeit“ (16, 30, 46, 107, 152, 185, 233) oder dem schönen Satz „So schönes Wetter, und wir immer noch dabei.“, der von Seite 75 bis 276 immer wieder zwischen die Texte montiert ist: „Tagessätze enden mit einem springenden Punkt.“ (93) Trotz allem finden sich auch unübersehbar diaristische Elemente, etwa beim Helgoland-Aufenthalt (168f.). Ein durchgearbeiteter Essay („Raabe, Lettau, Kraus und ich“, 156-164) kann ebenso Bestandteil des Ganzen sein wie ein Nachruf (187). Die Themenkomplexe? Die „Literaturbetriebswirtschaft“ (131) und die „Literaturkritik als ein Segment der Stiftung Warentest“ (124) (mit entschiedener Ablehnung: Elke Heidenreich, Monika Maron, Nora Bossong, Sibylle Lewitscharoff, zumal die „Schriftstellerdarsteller“ [205; Andrea Petkovic, Dirk Rossmann] und mit ebenso entschiedener Zustimmung: Ror Wolf, Clemens Setz, Markus Beyer, Brigitte Kronauer; die Tagespolitik (Trump, Orban, Bolsonaro); Erinnerungen an die DDR; die mit „Argwohn“ (53) beobachtete Pandemie-Entwicklung; dazu die ständige Reflexion der eigenen Arbeit (so 72).

Aber das Ganze als „Roman“, wie es im Untertitel heißt? Dagegen spricht die explizite Romanallergie des Autors: „Unlustgefühle und Abwehrreflexe dem Roman gegenüber“ (241); „Wer Romane schreibt, zahlt – von seinen Illusionen hingerissen, wie jeder passionierte Glücksspieler auch – hohe Einsätze in die Weltbestsellerlotterie ein, die nur wenige Gewinner kennt.“ (203) sowie der sehr spezielle Hinweis auf den Roman „Bebuquin“ von Carl Einstein. Dafür spricht, zumindest im metaphorisch weiten Sinne, die Komposition der Gesamtanlage.

Und wie steht es mit dem aphoristischen Element? Immerhin bescheinigt die Kritik dem Autor vereinzelt (Thomas Combrink, FAZ 16. 12. 2021) da eine besondere Stärke. Neben den Sonatensätzen verwirklicht es sich auch sonst vereinzelt: „Während die Seuche regiert, legt die Vergänglichkeit für eine Weile ihre Tarnkappe ab und beiseite.“ (129); „Sprache haben und sterben müssen.“ (137); vor allem, wie man das auch sonst häufig kennt, in den Schlusspointen berichtender oder essayistischer Passagen: „Chef ist, wer über die Wahrheit gebietet.“ (11); „Der Zufall stellt auf die Probe, die an ihm zweifeln.“ (41, vgl. 67, 129)

Hegewald beweist in den Naturbeschreibungen, im Großen („Im Nordwesten prahlen Gewitterwolken mit ihrem vom Abendlicht perfekt ausgeleuchteten Bodybildung“ (166, vgl. 173/174) wie im Kleinen (die Amsel, 58) ebenso stilistische Meisterschaft wie in der pointierten Formulierung („Beiläufige Bestechungsversuche mit der Währung Idylle. Eine Währung, so schwach wie die Ostmark selig.“, 135), die auch scheinbare Paradoxien auf das Knappste fasst („Kontingenztoleranz“, 63/159; „Aufklärungsobskurantismus“, 222). Ergo: Auch jenseits des Aphorismus sind seine „Tagessätze“ in allen Aspekten eine „Werkstatt der Wörtlichkeit“ (206, 285), die die Lektüre höchst lohnend macht.

 

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