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Friedemann Spicker über:
Wolfgang Mieder: Sprichwörtliche Aphorismen. Von Friedrich Nietzsche bis Franz Hodjak. Wien: Praesens 2025.

 

Es ist guter Brauch, sich zu Autoren, zu denen eine persönliche Nähe besteht, regelrechte Rezensionen zu verbieten, weil die Urteilsunbefangenheit nicht gegeben ist. Und zu Wolfgang Mieder haben wir vom Deutschen Aphorismus-Archiv trotz der räumlichen Entfernung zwischen Burlington (Vermont) und Hattingen (Ruhrgebiet) in der Tat eine enge Beziehung, auch über Bande gewissermaßen, über einige unserer Mitglieder wie Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger, Felix Renner, Gerhard Uhlenbruck oder Alexander Eilers. Angezeigt werden muss der Band aber unbedingt, deshalb hier nur neben eher statistischen Angaben einige wertungsfreie Beobachtungen, die sich vor allem aus dem Lesen über die Aufsatzgrenze hinweg ergeben, wie es der Sammelband jetzt ermöglicht.

Wolfgang Mieder, Professor an der University of Vermont, hat sich seit seiner Dissertation 1970 über „Das Sprichwort im Werke Jeremias Gotthelfs“ in unzähligen Veröffentlichungen einen Ruf als der Experte für Sprichwörter und Märchen schlechthin erarbeitet. Auf der Grundlage eines umfangreichen Archivs hat er das Grenzgebiet von Sprichwort, Redensart, Zitat und Aphorismus und die Modifizierungen als Antisprichwörter in Literatur, Medien und Karikaturen in zahllosen Sammlungen, Aufsätzen und Sammelbänden bearbeitet und Teile daraus regelmäßig in einer Reihe „Kulturelle Motivstudien“ veröffentlicht. Ich nenne exemplarisch nur die „Antisprichwörter“ (3 Bände, 1982-1989), „Verdrehte Weisheiten. Antisprichwörter aus Literatur und Medien“ (1998), „Sprichwörtliche Aphorismen. Von Georg Christoph Lichtenberg bis Elazar Benyoëtz“ (1999), „Aphorismen, Sprichwörter, Zitate. Von Goethe und Schiller bis Victor Klemperer“ (2000), „Spruchschlösser (ab)bauen“. Sprichwörter, Antisprichwörter und Lehnsprichwörter in Literatur und Medien“ (2010). In der ersten Aufsatzsammlung zu sprichwörtlichen Aphorismen von 1999 finden sich 18 Autoren; in der neuen Sammlung sind wiederum 18 zusammengestellt, mit dem Datum der Erstveröffentlichung: Friedrich Nietzsche (zweimal, 2013 und 2014), Erwin Chargaff (1999), Wolfgang Eschker (2000), Ulrich Erckenbrecht (zweimal, 2000), Arthur Feldmann (2000), Nikolaus Cybinski (2003), Hans Kudszus (2004), Ron Kritzfeld (2005), Werner Ehrenforth (2005), Klaus D. Koch (2005), Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger (zweimal, 2009 und 2021)), Jürgen Wilbert (2021), Vytautas Karalius (2022), Alexander Eilers 2022) und Franz Hodjak (2024). Die Erstveröfffentlichungen sind auf S. 408f. verzeichnet. (Nietzsche und der litauische, obgleich in Deutschland rezipierte Autor Karalius fallen aus dieser Reihe zeitgenössischer deutsch(sprachig)er Autoren etwas heraus.)

Um die Reihe der von Mieder behandelten Autoren komplett zu machen: In der ersten Aufsatzsammlung oder in anderen Publikationen, z. B. Festschriften, finden sich außerdem Aufsätze zu Dietmar Beetz, André Brie, Werner Mitsch, Hans Leopold Davi, Horst Drescher, Felix Renner, Markus M. Ronner, Hans-Horst Skupy und Gerhard Uhlenbruck (vgl. seine Autorenlisten S. 237, 290 und 309). Neben seiner Sammeltätigkeit (bisher „gut 1500 Aphorismenbände“, S. 13) muss Mieder ein begnadeter Rechercheur und unermüdlicher Briefschreiber sein. Anders lässt es sich nicht erklären, dass er ganz seltene und in kleinsten Auflagen erschienene Exemplare etwa von Feldmann, Kritzfeld oder Erckenbrecht sein eigen nennt, die nur den Spezialisten bekannt sind und deren oftmals erste wissenschaftliche Auswertung überhaupt nur auf der Grundlage seines einzigartigen und unerschöpflichen Archivs möglich war. Man folgt seinen mitunter explizit ausgebreiteten Recherchewegen, etwa in den ‚Fällen‘ Feldmann und Kritzfeld, mit größtem Interesse, allein weil hier Quellen zu heben sind. (Nicht verschwiegen sei, dass solch enge Verbindung auch den kritischen Blick trüben kann. Da wäre von seiten des unbefangenen Lesers zu relativieren.)

Das Vorwort gibt kurz Auskunft über diesen Teil seiner Arbeit seit 1977 und stellt die neue Sammlung im Einzelnen vor. Die Aufsätze sind wie in den Vorlagen teils mit Anmerkungen, teils mit der Literatur im Anhang versehen. Es ist unvermeidlich und auch unschädlich, dass sich bei der Vorgehensweise des Autors eine gewisse Routine entwickelt hat. Auf detaillierte biographische Angaben, die allein deshalb wertvoll sind, weil sie oft weit über das landläufig Bekannte und leicht zu Eruierende hinausgehen, folgen umfangreiche Belegreihen, manchmal über eine ganze Seite, von Sprichwortadaptionen und sprichwörtlichen Wendungen und Redensarten. Sie sind nach diversen Gesichtspunkten gegliedert, so nach dem Ursprungstext (Sprichwort, sprichwörtliche Wendung, Redensart), der Art derAdaption (Antisprichwort, Kombination zweier Wendungen, nur noch fragmentarisch erkennbar), nach der Herkunft (Bibel, Antike, Märchen, Zitatliteratur, folkloristisches Liedgut, Genderthematik, Tierwelt, Politik, somatische Redensarten, speziell der Kopf) oder der syntaktischen Formung (Wellerismus, Einsatzaphorismus, Definition, Strukturformeln, Generalisierungstrategien). Sie sind mit Kommentaren versehen, die neben genauer Analyse auch zahlreiche Querverbindungen zu anderen Autoren aufzeigen („Paralleltexte“, z. B. S. 107-111, 124f., 191-193 und 250-252) und sich auch vor ganz persönlichem Zugriff nicht scheuen. Die Statistik (Eilers 18% Anteil sprichwörtlicher Aphorismen, Karalius 10%, Hodjak 7,5%, Cybinski 20,8%) verschmäht der Autor dabei nicht. Auch Metaaphorismen, von denen er mehr als 750 zusammengestellt hat, finden sein besonderes Interesse. Der Schluss reflektiert in der Regel Funktion und Intention dieser Gruppe innerhalb des aphoristischen Gesamtwerkes (von der Freude am Spiel bis zu satirischer Kultur- und Sozialkritik).

Auch wenn es das resümierende Klischee in einer Besprechung (zu) oft will: Diesem Band kommt zweifellos das Epitheton „unverzichtbar“ zu; das erhellt aus der unvergleichlichen empirischen Grundlage ebenso wie aus der analytischen Breite, die Mieder seinem Material angedeihen lässt.

 

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