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Jürgen Wilbert über:
Wolfgang Ulrichskötter: Reifen schlaucht. ONLINE DRUCK BIZ 2023.

 

Mit einigen seiner wortwitzigen Aphorismen ist der Autor seit 2012 regelmäßig in den Anthologien der Aphorismen-Wettbewerbe des Deutschen Aphorismus-Archivs Hattingen vertreten. Mit dem Titelspruch „Reifen schlaucht“ hat es Ulrichskötter im Wettbewerb 2014 „Großes im Kleinen“ unter die ersten dreißig (von immerhin 387 Einsendungen) geschafft. Er wurde 1957 in Mülheim an der Ruhr geboren und lebt seit 2004 in Dortmund. Der schön gestaltete Hardcover-Band umfasst auf 118 Seiten über 400 Kurztexte; er ist aufgelockert durch Kalligrafien und farbige Illustrationen von Maria Wallmeyer-Ulrichskötter.

Positiv hervorzuheben ist die thematische Strukturierung in 15 Kapitel. Darin wird der inhaltliche Bogen geschlagen vom Gesundheitlichen und Kommunikativen über das Philosophische und Politische bis hin zu sportlichen und wirtschaftlichen Themen. Dadurch bleibt dem Leser / der Leserin erspart, in einer aphoristischen „Bleiwüste“ nach Orientierung zu suchen. Als Motto-Aphorismus hat Ulrichskötter seinem Erstling eine aphoristische Definition von Jürgen Flenker vorangestellt: Aphoristiker sind Schleppnetzfischer. Der Großteil der Arbeit besteht darin, den Beifang über Bord zu werfen.

Dieser bildhafte Kommentar zum aphoristischen Schreiben vorab erklärt auch Ulrichskötters Vorliebe für knappe Aphorismen. Im Buch finden wir somit zumeist Ein-Satz-Aphorismen. Eindeutig stehen hier das Sprachspielerische und Humoristische im Vordergrund; dazu wenige Beispiele: Viele Krankheiten resultieren daraus, dass der Fernseher mehr läuft als man selbst. (S. 5) / Wer den Braten nicht riecht, hat den Salat. (8) Viele seiner aphoristischen Sätze sind als bissig-witzige Kommentare zu Alltagssituationen zu verstehen: Die Menschen, die am meisten nerven, waren noch nie beim Psychiater. (10) / Der Landwirtschaftsminister hat die Freude am Schach verloren, weil ihm jedes Bauernopfer übelgenommen wird. (56) Die Pointe einiger seiner Aphorismen ergibt sich aus der Doppel- bzw. Mehrdeutigkeit eines Wortes, so wie in den folgenden Textbeispielen: Was passiert wird, ist meist verdaulicher als das, was passiert ist. (11) / Viele Diktatoren kennen keine Fallbeispiele, weil sie lieber mit dem Fallbeil spielen. (56)

Bei einem passionierten Sprachspieler wie Ulrichskötter ist die Gefahr der Fallhöhe natürlich groß, wenn die Wortspielleidenschaft überbordend wird; so stoßen wir zwischendurch auf solche eher platten Kalauer: Wer eine Pizza samt Karton verspeist, ist pappsatt. (12) Oder an anderer Stelle: Manche Männer kuschen selbst beim Kuscheln. (34) / Als er auf dem Zahnfleisch ging, lernte er einen steilen Zahn kennen. (39) Häufig stoßen wir auf diese im Aphorismus üblichen Satzstrukturen: Wer … der / Wenn … dann / Manche… oder Manchmal …, so wie zum Beispiel in diesem vom Sinn her eher gewöhnungsbedürftigen Satz: Manche Pazifisten stellen das Denken ein, wenn ihnen ein Gedanke durch den Kopf schießt. (64)

Alles in allem werden jedoch die Leser:innen, die in besonderem Maße an alltagsorientierter, prägnanter wortspielerischer Kreativität Vergnügen haben, voll auf ihre Kosten kommen, mit anderen Worten recht häufig Anlass zum Schmunzeln bzw. Lachen haben. Man nehme bloß diese Textbeispiele: Weil viele Bücher so schlecht laufen, gibt es Buchstützen. (21) / Gefühlschaoten stapeln Beziehungskisten. (25) Und im Kapitel „Kommunikatives“ auf S. 14 reichen zwei Worte: Anpflaumen wurmt. Knapper fällt nur noch der Einwort-Aphorismus aus, wie hier als Wortneuschöpfung: Puppenexerzierplatz (88). Ausgesprochen originell ist auch dieser Neologismus unter „Religiöses“: Evakurierung durch Evakuierung: Paradies adé! (74)

Im Buch finden sich vereinzelt durchaus auch – in eher lockerem Gewand – gesellschaftkritisch-bissige Kommentare, wie etwa auf S. 112 unter der Rubrik „Wirtschaftliches“: Im Kapitalismus sieht man es gern, wenn sich die Aktienkurse schneller als die Beschäftigten erholen. Oder auf S. 109: Viele Wohnungssuchende haben den Eindruck, dass auch Miethaie unter Artenschutz stehen. Zu meinen Favoriten, die ich abschließend nenne, zählen diese beiden Aphorismen, in denen bittere politische Wahrheiten in bester satirischer Manier zum Ausdruck kommen: Es gibt Länder, in denen es erst nach einem Staatsstreich wieder lustig wird. (66) Und schließlich: Belastete Politiker spenden gern ihr Erinnerungsvermögen. (65)

 

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